Entwurfsprozess - „Komposition IV“

Das Thema ließ Kandinsky nicht ruhen. Das, was er mit dem Gemälde „Kosaken“ erarbeitet hatte, überführte er im Zeitraum von Mitte bis Ende Februar 1911 in eine große „Komposition“. In seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“ hat Kandinsky dargelegt, dass ihm die „Komposition“ als die höchste Bildform galt. Er unterschied sie von „Impressionen“ und „Improvisationen“. Während bei der „Impression“ ein „direkter Eindruck von der ‚äußeren Natur‘ … in einer zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck kommt“, ist die „Improvisation“ „hauptsächlich unbewußte[n], größtenteils plötzlich entstandene[n] Ausdrücke[n] der Vorgänge inneren Charakters, also Eindrücke[n] von der ‚inneren Natur‘“, vorbehalten. Über die „Komposition“ schließlich heißt es: „… auf ähnliche Art (aber ganz besonders langsam) sich in mir bildende Ausdrücke, welche lange und beinahe pedantisch nach den ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden. Diese Art Bilder nenne ich ‚Komposition‘. Hier spielt die Vernunft, das Bewußte, das Absichtliche, das Zweckmäßige eine übergeordnete Rolle. Nur wird dabei nicht der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht gegeben.“36 Die Ausführungen des Malers lassen keinen Zweifel daran, dass die „Komposition“ nicht nur die höchste Bildform in seinem OEuvre darstellt, sondern auch die elaborierteste. Sie kennt keinen Zufall und keine Spontaneität, sondern ist geplant, gewollt, bewusst, durchdacht, zweckmäßig und durch Vernunft und Gefühl oder besser: durch Gefühl und Vernunft gestaltet und zu erschließen.

„1ste Zeichnung für Komposition 4“, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 4
„1ste Zeichnung für Komposition 4“, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Nina Kandinsky hat die Zeichnungen zu „Komposition IV“, die sich im Nachlass ihres Mannes erhalten haben, neben einer Vielzahl anderer Materialien dem Pariser Centre Georges Pompidou vermacht, ein kaum zu überschätzender Glücksfall, der es erlaubt, die Entwicklung der Bildidee nachzuvollziehen. Auf der ersten Zeichnung (Abb. 4), die einen entsprechenden Vermerk auf der Rückseite trägt und lediglich 10,9 auf 20,2 cm misst, ist die entscheidende Bildidee bereits fixiert.37 Das mit Bleistift, Kohle und Spuren von Tusche gestaltete Blatt ist mittig durch zwei steile, V-förmig gestellte Lanzen geteilt, die Kandinsky als strukturgebende Elemente mit Kohle verstärkt hat. Links ist die Kontur des spitzen Bergmassivs sichtbar, aber nur mit einer Staffel von Lanzen auf dem Gipfel versehen. Hinzu kommen, knapp und sparsam umrissen, die säbelschwingenden Kavalleristen, die Kontur des Kastells, allerdings ohne das tragende zentrale Massiv, das zur linken Bildseite hin durch eine Gerade ersetzt wird. Entscheidend ist, dass sich eine Binnenfigur ergibt, die an die Talsenke denken lässt. Vier offene Winkel, die wahrscheinlich die Kappen der Burgwächter repräsentieren, umspielen die bildteilenden Spieße. Die rechte Seite, die Kandinsky erst jetzt entwarf, wird von dem übergroßen Paar beherrscht, das der Maler bereits in die Steillage gebracht hat, das aber noch keine Rückbindung an ein Landschaftselement erfahren hat. Das Bergmassiv rechts fehlt noch, was einmal mehr verdeutlicht, dass das liegende Paar das übergeordnete Hauptmotiv der rechten Seite bildet. Um im Bereich oberhalb des Paares keine Leerstellen zu belassen, setzte Kandinsky drei diagonal ausgerichtete, kurze, kräftige Strichbündel, ohne bereits einen Bildgegenstand zu evozieren. Zwei Folgerungen ergeben sich: Das liegende Paar ist von überragender Bedeutung und Kandinsky dachte vor allem darüber nach, wie es sich aus seiner vorläufig noch isolierten Lage in das Bildganze integrieren lässt.

Schematische Zeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 5
Schematische Zeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Auf einem zweiten Blatt (Abb. 5) mit den Maßen 10 x 14,9 cm bediente sich Kandinsky allein des Kohlestifts.38 Nach wie vor arbeitete er an der Gesamtkonfiguration, entschied sich aber hier für einen abstrakteren Darstellungsmodus, indem er lediglich Hauptlinien angab. Drei Strichformen lassen sich unterscheiden: ausgezogene Linien, gestrichelte Linien und Linien, die beide Modi verbinden. Ausgezogen dargestellt sind die bildteilenden, wiederum V-förmig gegebenen Lanzen, die Rückenlinie des linken Pferdes, die obere Linie des liegenden Paars und der Kopfbereich der beiden Figuren. Es dürfte sich dabei wohl um diejenigen Linien handeln, die als konstituierende Elemente nicht mehr in Zweifel standen. Die linke Seite des Kastells ist ebenfalls mit ausgezogenen, verstärkten Linien, d. h. doppelt und dreifach geführtem Strich dargestellt. Gestrichelt dagegen sind der Lanzenverband, die Krummsäbel der Kavalleristen und ein großer rechter Winkel gegeben, der am Kastell ansetzt und nach unten weist, von wo aus punktartig nach rechts oben eine flächenerobernde Konstellation abspringt. Aus der Bogenlinie in der rechten Bildecke wird sich die zweite Sonne des Gemäldes entwickeln. Die untere Körperkontur des liegenden Paares ist ebenfalls gestrichelt, was insofern denkwürdig erscheint, als die gestrichelten Linien der Idee nach am ehesten zur Disposition stehen. Die Verbindung von ausgezogener und gestrichelter Linie mutet am überraschendsten an, da ihre jeweilige Existenz auf dem Blatt nicht immer zwingend erscheint. Den Linien haftet etwas Gesichertes und zugleich Tastendes an. Sie tauchen gerade da auf, wo die Komposition geklärt scheint, auf der linken Bildseite nämlich, bei der Konturlinie des Berges, die Kandinsky jetzt abgerundet hat, dann beim Pferderücken des rechten Kavalleristen, schließlich bei der Geraden, welche die Talsenke bildet. Was sich erstaunlicherweise nicht abzeichnet, ist das Kontinuum der drei strukturgebenden Bergmassive. Immerhin aber wird die Idee erkennbar, der rechten Seite eine eigene Sonne zu geben, was die Teilung des Bildes in zwei Hälften verstärkt. Kandinsky wusste nur zu gut, dass die Herausforderung in der Gestaltung des Umfeldes des liegenden Paares bestand.

Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 6
Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 7
Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Deshalb widmete er sich dem Thema in drei weiteren Zeichnungen, zwei Kohlezeichnungen, die das Suchende unterstreichen, und einer säuberlichen Bleistiftzeichnung, die sich allerdings kaum als Reinzeichnung ansprechen lässt. Die erste der zu besprechenden Zeichnungen (Abb. 6), wiederum mit den Maßen 10 x 14,9 cm, stellt das liegende Paar eng umschlungen vor einem Bergrücken mit zackigem, horizontal geführtem Kamm dar.39 Aus den deutlich erkennbaren Armen des Paares entwickeln sich die offenen Winkel des Gemäldes, die es schließlich erden werden. Hier lässt sich nun die Idee greifen, das liegende Paar vor einem Bergmassiv darzustellen, selbst wenn der gewählten Form noch etwas Vorläufiges anhaftet, der Umriss noch nicht endgültig festliegt. Mit der zweiten Kohlezeichnung (Abb. 7) stellt Kandinsky Überlegungen an, wie er die offenen Flächen des Bildes in den Griff bekommen könnte.40 Die Zeichnung hat Witz. Zunächst zog er Parallellinien, oben wie bei einem Notenblatt, mittig und unten rechts in Schräglage, als maßgebliche Grundstruktur. Darüber legte er jene elegante Parabel, die später als Umriss für das Zentralmassiv und den Regenbogen Bedeutung erlangt. Links taucht der gezackte Umriss der finalen Landschaft auf. In diese Konfiguration fügte Kandinsky nun zwei aufrecht stehende Menschenpaare ein, eines am rechten Blattrand, eines oberhalb der Talsenke, wo schließlich der Regenbogen stehen wird. Mit dem zweiten Paar in der Bildmitte war er offenbar unzufrieden, wie die heftigen Korrekturstriche erkennen lassen, während die Figuren am Blattrand mit klarem Strich gesetzt sind.

Tuschzeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 8
Tuschzeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Die skizzierte Idee versuchte Kandinsky im Gesamtzusammenhang auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen (Abb. 8), indem er ein verhältnismäßig großes Blatt mit den Maßen 24,8 x 30,3 cm wählte und das an ein Notenblatt erinnernde Lineament mit horizontaler Ausrichtung und eines der Paare übertrug, dessen Standlinie, jetzt gezackt, quasi an die Kopfpartie des liegenden Paars stößt.41 Allerdings fehlt immer noch das rechte, spitz konturierte Bergmassiv. Die Disposition mutet insofern neuartig an, als sich abzeichnet, dass Kandinsky begann, den Bildraum oberhalb des liegenden Paares zu erobern. Die mit Bleistift und Tusche ausgeführte Zeichnung lässt aber auch erkennen, dass das implantierte Menschenpaar in seiner minimalen Größe und entrückten Position als formaler Gegenspieler der kämpfenden Reiter auf der linken Bildseite nicht ausreicht, um die beiden Bildhälften in eine Balance zu bringen. Darüber kann auch die horizontale Strichlage, die auf der Höhe des Kastells ansetzt und in einem kräftigen Horizontalstrich kulminiert, nicht hinwegtäuschen.

Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 9
Entwurf zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Ölskizze zu Komposition II, 1909/10, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Abb. 10
Ölskizze zu Komposition II, 1909/10, Solomon R. Guggenheim Museum, New York

Das sechste Blatt (Abb. 9) mit den Maßen 10 x 14,9 cm, als feinlinige Bleistiftzeichnung anzusprechen, macht einen neuen Anlauf zur Lösung des aufgeworfenen Problems.42 Kandinsky zeichnete das liegende Paar als separierte Gestalten, von denen die eine, was das Volumen angeht, wuchtig, die andere grazil ausfällt. Darüber setzte er drei Formen, deren Umriss sich von dem entfernt, was er in den vorherigen Zeichnungen experimentell erarbeitet hatte. Es lässt sich schlechterdings nicht entscheiden, ob es sich um menschliche Figuren handelt oder um Landschaftselemente wie Felsen, ähnlich denen in „Komposition II“ (Abb. 10), oder Wegmarkierungen. Mit Bestimmtheit lässt sich jedoch sagen, dass Kandinsky hier den Grund für die rätselhafte Figuration oberhalb des Paares im ausgeführten Gemälde legte. Die Formen selbst sind abstrakt und offen für die Imagination, die formale Vernunft müsste vor ihnen versagen, wenn sich die Entsprechungen zu den Felsen in „Komposition II“ nicht aufdrängten.

Finale Entwurfszeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 11
Finale Entwurfszeichnung zu Komposition IV, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Eine letzte Zeichnung (Abb. 11), mit Bleistift und Kohle gefertigt und in einem finalen Arbeitsgang aquarelliert, hat Kandinsky in acht gleiche Felder geteilt, sicherlich um die gefundene Bildlösung auf die Leinwand zu übertragen.43 Sie misst lediglich 18,5 x 27,1 cm, was in Anbetracht der Dimensionen des ausgeführten Gemäldes von 159,5 x 250,5 cm überrascht, aber das kompakte Format bietet den Vorteil der Handlichkeit und Überschaubarkeit. In einem ersten Akt hat Kandinsky das erarbeitete Lineament mit feinem Bleistiftstrich eingetragen, es mit dem Kohlestift interferierend verstärkt und alle dominanten Linien und Umrisse festgelegt: die bildteilenden Lanzen, die landschaftliche Grundstruktur der drei Berge nebst Kastell, das Bildpersonal der Kavalleristen, Pikeniere und des liegenden Paars und nicht zuletzt die rätselhafte Konfiguration oberhalb des rechten Bergmassivs. Für den Regenbogen, die Sonnen, den Himmel und die Burgwächter, bei denen sich das Farbenspiel der Malerei besonders hervortut, nutzte Kandinsky mit gutem Grund die Aquarellfarbe, da sie die Bildarchitektur des Liniengerüsts erst zum Leben erweckt. So sehr die Zeichnung dem entspricht, was Kandinsky malerisch realisieren sollte, zeigen sich im Vergleich mit dem Gemälde doch Proportionsverschiebungen, etwa bei der Schlachtenszene, was zu der Folgerung Anlass gibt, dass der Maler die letzte Entscheidung vor der Leinwand traf.

36) Kandinsky 1952, S. 142.

37) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 114; Barnett 2006, Bd. 1, S. 93, Nr. 180 und S. 138, Nr. 180. Die Maßangaben der Autoren differieren. Hier sind die von Barnett übernommen.

38) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 115; Barnett 2006, Bd. 1, S. 93, Nr. 181.

39) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 117; Barnett 2006, Bd. 1, S. 94, Nr. 184.

40) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 116; Barnett 2006, Bd. 1, S. 93, Nr. 182.

41) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 113; Barnett 2006, Bd. 1, S. 95, Nr. 185. Die Maßangaben der Autoren differieren. Hier sind die von Barnett übernommen.

42) Derouet/Boissel 1984, S. 108 f., Nr. 118; Barnett 2006, Bd. 1, S. 94, Nr. 183. Die Maßangaben der Autoren differieren leicht.

43) Barnett 1992, Bd. 1, S. 235, Nr. 266. Auf der Rückseite vermerkte Nina Kandinsky: „Kandinsky/Skizze zu Komposition N 4, 1910“. Die Datierung ist falsch, aber interessant. Das Blatt entstand unzweifelhaft 1911. Womöglich wusste Nina Kandinsky, dass Kandinsky mit „Komposition IV“ auf Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ alludierte und der Auslöser zur Entstehung des Bildes der Tod des Schriftstellers im Jahre 1910 war. Siehe Derouet/Boissel 1984, S. 109, Nr. 119.