II. Kunsttheorie – Tolstoi und Kandinsky

In kunsttheoretischer Hinsicht wurde das Verhältnis von Kandinsky zu Tolstoi bisher kaum untersucht. Die Aufdeckung verbindender und trennender Positionen hat Kandinsky selbst vereitelt, indem er schon in seinem ersten veröffentlichten Text, „Kritika Kritikov“ von 1901, auf unübersehbare Distanz zu Tolstoi ging. Kandinsky konstatierte zunächst, dass die allgemeine Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild von den Zielen des Künstlers habe, nichts von seinen Anstrengungen oder Schwierigkeiten wisse, noch weniger von seinen inneren Kämpfen, was nicht zuletzt auch dadurch zum Ausdruck komme, dass selbst bedeutende Schriftsteller wie Tolstoi zu einer falschen Vorstellung gelangten, welche Ziele ein Maler verfolge. Denn in seinem Buch „Was ist Kunst?“, 1898 erschienen, vertrete er den Standpunkt, dass ein Maler zeitlebens danach strebe, alles darstellen zu können, was in sein Blickfeld trete. Dies sei, so Kandinsky, in der Tat ein Urteil, das sich von dem der allgemeinen Öffentlichkeit nicht unterscheide, aber an der Realität eines Malers vollends vorbeigehe. In einer Anmerkung zu dieser Passage entschuldigte sich Kandinsky beiläufig, dass er Tolstoi nicht wörtlich zitieren könne, aber er habe seine Schrift „Was ist Kunst?“, die er vor einiger Zeit überflogen habe, gerade nicht zur Hand. An der wahrheitsgemäßen Darstellung ändere das allerdings nichts.69

In seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“ griff Kandinsky das Problem nochmals auf und bemerkte: „In jedem Bild ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes Leben mit vielen Qualen, Zweifeln, Stunden der Begeisterung und des Lichts. Wohin ist dieses Leben gerichtet? Wohin schreit die Seele des Künstlers …? Was will sie verkünden? ‚Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens senden – Künstlers Beruf‘, sagt Schumann. ‚Ein Maler ist ein Mensch, welcher alles zeichnen und malen kann‘, sagt Tolstoj.“70 Die als Zitat ausgewiesene Textstelle ist nicht wörtlich wiedergegeben. Aus ihrem Kontext gelöst, zudem sinnwidrig verwendet und denkbar schlecht platziert, muss sie geradezu geistlos auf den Leser wirken, zumal Kandinsky durch die einleitenden Fragen ausgesprochen hohe Töne anschlug.71 Wir dürfen dahinter eine rhetorische Absicht des Malers vermuten, dem daran lag, eine Nähe zu Tolstoi in kunsttheoretischer Hinsicht zu verschleiern, wenn nicht zu negieren. Denn zum einen wusste Kandinsky sicherlich, dass die Schrift „Was ist Kunst?“ Tolstoi vernichtende Kritiken eingebracht hatte, Grund genug, schon deshalb einen gewissen Abstand zu wahren. Zum anderen aber verdankte Kandinsky ihm wichtige Einsichten in Funktion und Sinn der Künste, entlehnte markante Denkbilder und zentrale Positionen, was er offenbar für die Leser nicht durchsichtig zu machen beabsichtigte, um die Eigenständigkeit seines kunsttheoretischen Denkens zu betonen.

69) Kandinsky 1982, Bd. 1, S. 36.

70) Kandinsky 1952, S. 24 f.

71) Vgl. Tolstoj 1911, S. 3.