„Komposition IV“ – „Krieg und Frieden“

Ölskizze zu Komposition II, 1909/10, Solomon R. Guggenheim Museum, New York
Abb. 10
Ölskizze zu Komposition II, 1909/10, Solomon R. Guggenheim Museum, New York

Ebenso wie das Gemälde „Kosaken“ konnte „Komposition IV“ bisher in inhaltlicher Hinsicht nicht überzeugend erschlossen werden. Einer der Gründe dürfte darin liegen, dass Kandinsky in seinem Text „Komposition 4 – Nachträgliches Definieren“ einen Vergleich mit „Komposition II“ zog, bei dem eine ähnliche, allerdings weniger ausgeprägte Teilung des Bildes in zwei Hälften auffällt (Abb. 10).44 Auch beim Bildpersonal, einer Reiterkampfszene mit zwei Kombattanten, aus der Mitte nach links verschoben, und einem Liebespaar rechts, gibt es auffallende Parallelen. Allerdings erschöpft sich „Komposition II“ darin nicht, sondern stellt weitere Figuren dar, die es bei der Ausdeutung des Gemäldes zu berücksichtigen gilt: links unten eine vermeinte Sintflutszene, rechts einen sogenannten Liebesgarten mit spielenden Gestalten.45 „Komposition II“, im Winter 1909/10 gemalt und auf das Format 200 x 275 cm zugeschnitten, befand sich ehedem im Besitz von Botho von Gamp, wurde im Zweiten Weltkrieg leider zerstört, hat sich jedoch in einer vorbereitenden farbigen Ölskizze mit den Maßen 97,5 x 131,2 cm im Guggenheim Museum, New York, erhalten. Das Gemälde mit dem Zusatztitel „Felsen“ kann schwerlich zur Interpretation von „Komposition IV“ herangezogen werden, da die Differenzen über die Gemeinsamkeiten dominieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum Kandinsky zwei großformatige, anspruchsvolle Kompositionen ähnlichen oder gleichen Inhalts hätte malen sollen. Die Forschung hat bislang zu sehr auf die Entsprechungen mit „Komposition II“ geblickt, um sich, wie man meinen könnte, nicht in Widerspruch zu Kandinsky zu begeben.

Kandinsky setzte seine Auseinandersetzung mit Tolstoi insgeheim fort und nahm dessen berühmtestes Werk, den Roman „Krieg und Frieden“,46 der 1868/69 erschienen war, zum Ausgangspunkt seiner Bildidee für „Komposition IV“.47 In gewisser Weise mutet das insofern undenkbar an, als das vielschichtige, facettenreiche und monumentale Epos, das Weltgeschichte und familiäres Leben verschränkt und auf mehr als zweitausend Druckseiten entfaltet, sich per se jeder malerischen Darstellbarkeit zu entziehen scheint. Und dennoch gelang es Kandinsky, dieses grandiose Werk Tolstois zu vergegenwärtigen, indem er lediglich auf den Titel des Romans anspielte und damit das Ganze aufrief. Darin, im Kürzelhaften, in der Abbreviatur, besteht sein genialer Kunstgriff. Kandinsky machte erst gar nicht den Versuch, einen bildlichen Ausdruck für die erzählerischen Dimensionen des Epos zu finden. Daran hätte jeder Maler notwendig scheitern müssen. Das Verfahren der Allusion, dessen sich der Künstler bediente, setzt freilich voraus, dass man den Roman kennt, dem in Russland der Rang eines Nationalepos zukommt und der noch heute zum literarischen Kanon gebildeter Russen zählt. Unter der Voraussetzung, dass der Inhalt des Werks gewusst wird, löst sich der gordische Knoten alsbald auf, der bisher den Blick auf „Komposition IV“ verstellt hat.

Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Abb. 1
Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Betrachten wir unter dieser Prämisse abermals das Bild (Abb. 1), so ergibt sich folgender Befund: In der Tat sehen wir die Schlachtenszene der aufmarschierten Truppen aus Infanteristen und Kavalleristen auf der linken Bildseite, und erstaunlicherweise macht es kaum einen Unterschied, ob wir die Kosaken als solche erkennen oder nicht, wenngleich sie dem Bild Lokalkolorit verleihen, den Betrachter in die endlosen Weiten des russischen Reiches verweisen. Der Untertitel des Bildes, der Begriff „Schlacht“, bestärkt die Seherfahrung und führt zum eigentlichen Bildinhalt, dem Krieg. Er ist, wenn man so will, ortlos geworden, kein bestimmter Schauplatz scheint gemeint. Zunehmend aber formt sich in Kenntnis des Romans der Gedanke, dass wir der Schlacht von Borodino beiwohnen, durch die sich das Blatt für die napoleonischen Invasoren langsam, aber endgültig wendete.48 Wollte man Anleihen bei der klassischen Dramentheorie machen, um die Bedeutung der Schlacht zu bestimmen, so müsste man vom Moment der Peripetie sprechen.

Auf der rechten Bildseite sehen wir ein Liebespaar, ohne im Vorhinein bereits zu wissen, wen es darstellt. Es besteht in Anbetracht der Gesamtkonstellation des Romans jedoch nicht der geringste Zweifel, dass Pierre, der uneheliche Sohn und legitimierte Erbe des vermögenden Grafen Besuchow, und Natascha, die jüngste Tochter des verarmten Grafen Rostow, gemeint sind, die nach unendlichen Irrungen und Wirrungen, Irrungen des Gefühls und Wirren der Welt, schließlich zueinanderfinden und ein Leben in gegenseitiger Liebe führen. In der suchenden Gestalt Pierres kommen beide Seiten des Gemäldes auch inhaltlich zusammen, da er die Schlacht von Borodino beobachtete, die wahnwitzige Figur eines neugierig unverständigen Zivilisten gab, der ziellos und entgeistert zwischen Geschützen, Schlachtreihen, Verwundeten und Toten umherirrte. Erst nach seiner Läuterung, ausgelöst durch eine Exekution, seine französische Gefangenschaft und die Begegnung mit Platon Karatajew, fand er langsam den Weg zu Natascha, die ihrerseits aus den schweren Prüfungen ihres Gefühls zu geläuterter und reifer Liebe gelangte, indem sie sich nicht mehr an die äußere, glanzvolle Erscheinung eines Anatole Kuragin heftete, sich auch nicht in das Verlöbnis mit Fürst Andrej Bolkonski fügte, sondern sich zu guter Letzt an der inneren Gestalt Pierres entzündete. Was nun die rätselhafte Konfiguration oberhalb des schwebenden Paares in Kandinskys Bild angeht, so dürfen wir sie als Simultanszene lesen, bei der prinzipiell die Bedingung der Wiedererkennbarkeit erfüllt sein muss, und darin den Aufbruch oder die Reise des Paares auf dem gemeinsamen Lebensweg erkennen. Gezwungen sind wir dazu nicht. Wir dürfen uns die rätselhafte Konfiguration in der Fantasie auch als Landschaftselemente ausmalen, denn ihre eigentliche Funktion liegt nicht im Erzählerischen, schon gar nicht im Symbolischen, sondern im Ästhetischen: Sie ist der formale Gegenspieler der Kavalleristen und sorgt dafür, dass das Gemälde mit seinen beiden Hälften eine Einheit bildet. Die pikturalen Kürzel sollen den Betrachter dazu führen, das aus der Bildlektüre erschlossene Begriffspaar „Schlacht und Liebe“ mit „Krieg und Frieden“ zu verknüpfen, es gleichsam auf eine höhere Stufe zu heben und auf diesem Wege den eigentlichen Bildinhalt zu bestimmen.49

Man kann oder muss vielleicht sogar die Frage stellen, warum Kandinsky gerade das bedeutendste Werk Tolstois, das Geschichtsepos „Krieg und Frieden“, zum Thema seines Bildes wählte. Das Titanische des Romans, von dem Tolstoi sagte, dass er der Welt etwas wie die „Ilias“ geschenkt habe, scheint eine bildliche Anverwandlung geradewegs zu verhindern statt zu ermöglichen. Denn im Falle einer literarischen Vorlage steht jeder Maler vor der Frage, welche Szenen zur bildlichen Gestaltung in Betracht kommen beziehungsweise geeignet erscheinen. Wir haben gesehen, auf welchem Weg Kandinsky das aufgeworfene Problem löste, indem er sich nicht Einzelnem zuwandte, wie es für eine induktive Vorgehensweise charakteristisch wäre, sondern das Ganze in den Blick nahm, vom erhabenen Standpunkt eines kühnen Denkers das Problem deduktiv löste, indem er die pikturalen Abbreviaturen auf den Titel des Werks zuspitzte und damit das Ganze aufrief. Dass die gemalte „Schlacht“ für die Erhebung der Russen gegen die französischen Invasoren einsteht und die „Liebe“ als universale Kraft für die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit, zeigt vor allem, wie souverän Kandinsky, was im Weiteren noch deutlicher werden wird, mit den europäischen Bildtraditionen umzugehen wusste. Es würde als Legitimation des Gemäldes völlig ausreichen, wenn man sagte, dass Kandinsky dem großen Schriftsteller Tolstoi, der gerade verstorben war, ein Denkmal errichten wollte, ein Gedächtnisbild zu malen wünschte, sofern man von den tradierten kunsthistorischen Memorialkategorien ausgeht. Nicht der Verstorbene selbst findet im Bild eine Würdigung, wie etwa bei den posthumen Porträts Friedrich Nietzsches, sondern das hinterlassene OEuvre wie im Fall von Homer, der durch jede Szene der Ilias oder der Odyssee gegenwärtig wird. Wollen wir die Beweggründe Kandinskys, „Komposition IV“ zu malen, ausloten, so würde es kaum genügen, einen künstlerischen Standpunkt einzunehmen und zu sagen, dass er mit dem Bild ein Exempel seiner kühnen, zur Abstraktion tendierenden Malerei geben wollte, bei dessen Betrachtung die Zeitgenossen schon deshalb scheiterten, weil sie das Gegenständliche nicht erkennen und deshalb keine Gewissheit erlangen konnten, welcher Art das Bild vor ihren Augen sei. In der Tat schuf Kandinsky ein Werk, das den Balanceakt zwischen Konkretion und Abstraktion nicht nur in der Schwebe hält, sondern die Abstraktion in bisher nicht gesehener Weise vorantrieb. Insofern darf mit ziemlicher Gewissheit davon ausgegangen werden, dass dem Maler kein Schlachtenbild im konventionellen Sinne vorschwebte, das Tolstois sorgfältige Recherchen der geschichtlichen Ereignisse zu illustrieren suchte. Wir dürfen auch ausschließen, dass Kandinsky mit dem Gemälde nachfolgenden Generationen eine Lektion über die nationale russische Geschichte erteilen wollte, denn das ist nicht die Aufgabe der bildenden Kunst, und es wäre ein Zeugnis von Blindheit, wenn sie sich an Stelle der Geschichtswissenschaft installieren wollte.

Der Antrieb, das Bild zu malen, dürfte demzufolge noch andere Gründe haben, die über den Memorialaspekt und die rein künstlerischen Belange hinausgehen. Gerade die Tatsache, dass Kandinsky die Schlacht von Borodino zum Gegenstand wählte, die als eine der blutigsten des 19. Jahrhunderts gilt und keine Entscheidung über den weiteren Verlauf des Krieges brachte, lässt daran denken, dass Kandinsky dem Gemälde eine bisher übersehene Dimension einschrieb, die mit dem Krieg an sich zu tun hat. Die ganze Wucht des Bildes und seinen tieferen Sinn erhellt der Vorabend des Ersten Weltkrieges, als die Nationen ihre Staatsbürger zu den Waffen riefen und ehemalige Freunde durch ihren erzwungenen oder freiwilligen Dienst in den Armeen ihrer Heimatländer, wenigstens offiziell, zu Feinden wurden. Kandinskys Freundschaft mit Franz Marc kam unter den veränderten Bedingungen des Krieges an ihr Ende, da sie unvereinbare Haltungen zu den aktuellen Ereignissen an den Tag legten. Marc schrieb dem Weggefährten im Oktober 1914: „Ich selbst lebe in diesem Kriege. Ich sehe in ihm sogar den heilsamen wenn auch grausamen Durchgang zu unsern Zielen; er wird die Menschen nicht zurückwerfen, sondern Europa reinigen, ‚bereit‘ machen“50, eine Sichtweise, die Kandinsky kategorisch ablehnte und ihn auf Distanz zu Marc brachte. Wenige Tage später antwortete er aus dem Schweizer Exil mit spürbar kühler Zurückhaltung: „Bis zum letzten Augenblick konnte ich nicht glauben, daß Ihre Erwartungen sich rechtfertigen können. Ich dachte, daß für den Bau der Zukunft der Platz auf eine andere Art gesäubert wird. Der Preis dieser Art Säuberung ist entsetzlich.“51 Abgesehen davon, dass Marc den erbarmungslosen Stellungskrieg nicht überlebte, musste sein Brief einen tiefen Graben zwischen den ehemaligen Freunden aufwerfen, weshalb die Korrespondenz noch vor Jahresende 1914 zum Erliegen kam. Der Krieg als Reinigung der Welt von ihren Übeln, wie Marc ihn dachte, ließ sich mit dem pazifistischen Weltbild Kandinskys nicht vereinbaren.

Kandinsky hatte sich offenbar an Tolstoi geschult, der indirekt dem Konzept des passiven Widerstandes das Wort redete, indem er die Bedeutung der Rolle General Kutusows für den Fortgang des Krieges nach der Schlacht von Borodino herausstellte. Kutusow, introvertiert, zurückgezogen und wortkarg, brütete in der Abgeschiedenheit seiner Feldlager den Gedanken aus, Moskau angesichts der vorrückenden Truppen Napoleons aufzugeben und die Stadt in Windeseile zu evakuieren, um auf diesem Weg den Feind zu schwächen, der durch das Gemetzel von Borodino nicht besiegt werden konnte. Die Einnahme Moskaus, dessen Bevölkerung und Souverän die Stadt verlassen hatten, erwies sich in Anbetracht des nahenden Winters als folgenschwere Fehlentscheidung Napoleons, was umso schmerzlicher wog, als die Franzosen erkennen mussten, dass sie sich keiner Vorräte bemächtigen konnten. Die Kälte und der Hunger bescherten ihnen nicht nur eine bittere Niederlage, sondern wurden zum grauenvollen Verhängnis. Der Gedanke des passiven Widerstandes musste umso überzeugender auf Kandinsky wirken, als die defensive Strategie Kutusows einen Sieg herbeiführte, den alle bisherigen Schlachten des Befreiungskrieges nicht erwirken konnten. Auch wenn Kandinsky darauf verzichtete, Kutusow, den glänzenden Strategen und Friedensbringer, im Gemälde darzustellen, was die Konzeption des Bildes gesprengt hätte, so ist doch sein Geist anwesend, denn auf die Schlacht von Borodino lässt Kandinsky auf der rechten Bildseite das Zeitalter des Friedens, repräsentiert durch die Liebenden, folgen.

44) Vgl. Roethel/Benjamin 1982, Bd. 1, S. 305, Nr. 326 und S. 314, Nr. 334.

45) Kandinsky seinerseits bemerkte in seinem Text „Mein Werdegang“ von 1914, dass er „Komposition II“ ohne Thema gemalt habe. Vgl. Kandinsky 1980, Werdegang, S. 57. Die Forschung hat die Aussage in Zweifel gezogen. Bei anderer Gelegenheit notierte er: „In undeutlichen Träumen zeichnete sich manchmal vor meinen Augen in ungreifbaren Bruchstücken etwas Unbestimmtes ab, das mich zeitweise durch seine Kühnheit erschreckte. Manchmal erschienen mir im Traum harmonische Bilder, die nach dem Erwachen nur unklare Spuren unwesentlicher Einzelheiten zurückließen. Einmal sah ich im Typhusfieber mit großer Deutlichkeit ein ganzes Bild, das jedoch irgendwie in mir auseinanderfiel, sobald ich gesund wurde. … endlich, nach vielen Jahren, gelang es mir, in der ‚Komposition 2‘ das Wesentliche dieser Fiebervision auszudrücken, was mir jedoch erst vor kurzem bewußt geworden ist.“ Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 156 Anm. 23.

46) Mir ist bekannt, dass Tolstoi sich gegen die Einordnung seines Opus magnum unter den Gattungsbegriff des „Romans“ verwahrte. Gegen den Begriff des Epos hätte er wohl auch Einwände erhoben, wenngleich er der Meinung war, dass er der Welt ein Werk geschenkt habe, das wie die „Ilias“ sei.

47) Kandinsky schrieb Hans Hildebrandt am 25. März 1927, dass der „Anlaß ( ) [zu dem Bild] ein Kosackenritt [sic] durch die Straßen Moskaus 1905 während der ersten Revolution (war).“ Hildebrandt 1955, S. 328. Nach allem, was wir über Kandinskys Biografie im Einzelnen wissen, hat er Moskau 1905 nicht besucht, sondern lediglich seine Familie in Odessa. Hier liegt wohl ein Irrtum vor.

48) Die Schlacht von Borodino fand gemäß dem julianischen Kalender am 26. August, gemäß dem gregorianischen Kalender am 7. September 1812 statt. Auch wenn Napoleon einen taktischen Sieg errang, so war er um den Preis extrem hoher Verluste erkauft. Im weiteren Verlauf des Kriegsgeschehens sollte sich die Schlacht für die Franzosen als Pyrrhussieg erweisen.

49) Grohmann wäre es fast gelungen, den Bildinhalt zu erschließen: „In der Mitte (Blauer Berg) ist Ruhe, und die beiden Baumstämme [das sind die Lanzen] teilen die kriegerische Hälfte von der des Friedens rechts mit den übergroßen Liegenden.“ Grohmann 1958, S. 122. Floch legte den Gehalt der beiden Bildhälften auf die Begriffe „combat“ und „jouissance du bonheur“ fest. Floch 1981, S. 154. Dabrowski konstatierte: „In terms of content, then, there is a counterbalance between the forces of violence and those of peaceful harmony.“ Dabrowski 1995, S. 32.

50) 24. Oktober 1914, Marc an Kandinsky. Kandinsky/Marc 1983, S. 263.

51) 8. November 1914, Kandinsky an Marc. Kandinsky/Marc 1983, S. 265.