Übertragung – Ansteckung

Die Grundkonstruktion der Übertragung des Gefühls bei der Rezeption eines Kunstwerks findet man in Tolstois Schrift „Was ist Kunst?“. Im fünften Kapitel, das die wesentlichen Aussagen zur Gefühlsübertragung bündelt, was Tolstoi Ansteckung nannte, liest man: „Wie das Wort, das die Gedanken und Erfahrungen der Menschen wiedergiebt, als Mittel zur Einigung der Menschen dient, so wirkt auch die Kunst. Die Eigentümlichkeit aber dieses Mittels der Gemeinschaft, die es von der Gemeinschaft durch das Wort unterscheidet, besteht darin, daß durch das Wort ein Mensch dem andern seine Gedanken mitteilt, durch die Kunst aber teilen die Menschen einander ihre Gefühle mit.“95

Der Maler Franz Marc glaubte bemerkt zu haben, dass Tolstois Kunstbegriff, der den Status eines Kunstwerks an seiner Ansteckungsqualität bemaß, an die Definitionen von Eugène Véron anschloss, da er schrieb: „… die Kunst ist eine äußerliche Offenbarung mittels der Linien, Farben, Gebärden, Töne, Worte, Gemütsbewegungen, die der Mensch empfindet (Véron).“96 Tatsächlich referierte Tolstoi den französischen Autor und kommentierte: „Die praktische Definition, die die Kunst als die Äußerung von Gemütsbewegungen hinstellt, ist deshalb ungenau, weil der Mensch mittels Linien, Farben, Tönen, Worten seine Gemütsbewegungen äußern kann, ohne durch diese Äußerung auf andere zu wirken, und dann ist diese Äußerung keine Kunst.“97 Die Bestimmungen müssten nicht weiter verfolgt werden, wenn Franz Marc nicht eine enge Beziehung zwischen Tolstoi und Kandinsky geknüpft hätte. In seinen Kommentaren zu Tolstois Schrift, die er im Frühjahr 1915 als Soldat im Feld verfasste, heißt es: „Gerade Definitionen wie die von Véron, die Tolstoi so vernünftig findet, erscheinen mir sehr unklar. Diese ‚Zusammenstellung’ von Linien Formen etc,- was heißt das: ‚Zusammenstellung’? und der ‚gewisse Rhythmus’? Wie wenn ich ein Pferd definieren wollte und sage: eine Zusammenstellung von Zellen nach einem gewissen Rhythmus, der ein Pferd ergibt. Diese Definition ärgerte mich schon früher bei Kandinsky, der auch damit anfängt und alle Kunstschreiber über unsre Bilder haben’s ihm nachgemacht. Damit ist gar nichts Wesentliches gesagt; abstrakte Formen entstehen ganz anders!“98

Die Schwierigkeiten des Verständnisses rührten wohl daher, dass Marc die Referenzen Tolstois mit produktionsästhetischen Erfahrungen abglich, während es dem Schriftsteller allein um die Wirkmächtigkeit des Kunstwerks ging: „Die Kunst fängt dann an, wenn ein Mensch in der Absicht, den anderen Menschen das von ihm empfundene Gefühl mitzuteilen, dasselbe von neuem in sich hervorruft und es durch gewisse äußere Zeichen ausdrückt.“99 Dieser Aussage hätte Franz Marc vielleicht nicht, wohl aber Kandinsky zustimmen können, ohne die geringsten Abstriche bei seinen Texten vornehmen zu müssen, wozu er sich jedoch weder durchringen konnte noch wollte, nicht zuletzt deshalb, weil er auf die Eigenständigkeit seines kunsttheoretischen Denkens beharrte.

Sein künstlerisches Credo, das ausschließlich das inhärente Gefühl als Vermittlungsinstanz zwi­schen Künstler und Rezipient gelten ließ, wollte Tolstoi in seiner Schrift „Was ist Kunst?“ gesperrt gedruckt sehen, damit es niemandem entgeht: „In sich das einmal empfundene Gefühl hervorrufen und, nachdem man es in sich hervorgerufen hat, dieses Gefühl durch Bewegungen, Linien, Farben, Töne, Bilder, die durch Worte ausgedrückt sind, so wiederzugeben, daß andere dasselbe Gefühl empfinden, - darin besteht die Thätigkeit der Kunst. Die Kunst ist eine menschliche Thätigkeit, die darin besteht, daß der eine Mensch bewußt durch gewisse äußere Zeichen den anderen die Gefühle, die er empfindet, mitteilt, die anderen Menschen von diesen Gefühlen angesteckt werden und sie nacherleben.“100

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Tolstoi nicht die Absicht hatte, die Gefühle des Menschen zu werten, was Kandinsky durch seine Sondierungen nicht unterließ. Der Maler hatte die alltäglichen, sogenannten gröberen Gefühle aus dem Kanon relevanter Gefühle ausgeschlossen, um statt ihrer lediglich feinere, aber namenlose Gefühle oder Vibrationen, die wir hilfsweise feinstofflich nennen, zuzulassen.101 Hierin zeigt sich unverkennbar Kandinskys jenseitige, spirituelle Gesinnung, während Tolstoi das Anliegen verfolgte, das Bewusstsein der Gotteskindschaft aller Menschen im Sinne der christlichen Religion durch Kunst zu bestärken. Die berühmte Sentenz der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller, „Alle Menschen werden Brüder“, hatte der Schriftsteller dahingehend umgedeutet, dass alle Menschen bereits Brüder und Schwestern in Christo seien. Und Kandinsky, so könnte man sagen, hoffte darauf, dass alle Menschen Brüder und Schwestern würden, wenn es nur gelänge, sie an den Emanationen des namenlosen Geistes teilhaben zu lassen, sei es aus eigener Kraft, sei es durch das geschärfte Sensorium einer vibrierenden Künstlerseele.102 Gerade durch Kunst, so Kandinsky, gerade durch die individuelle Artikulation des Unendlichen im Kunstwerk, gerade durch die Einsicht in die Universalität des Geistprinzips kann die Menschheit jenen Status erreichen, den Tolstoi durch das unbedingte Liebesgebot der christlichen Religion längst vorgezeichnet sah. Allerdings stand niemandem deutlicher als Tolstoi vor Augen, dass die diesseitigen Verhältnisse weit entfernt davon waren, die Gotteskindschaft aller Menschen durch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu bezeugen.103 Vehement trat er daher für die vollständige Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland ein und für die Einrichtung allgemeinbildender Schulen, und es drängte ihn, mit seiner schriftstellerischen Arbeit darauf hinzuwirken, des Menschen Kenntnisse über den Menschen zu vertiefen und auf diesem Wege jenen Zustand allgemeiner Brüderlichkeit zu forcieren, den es im Hier und Jetzt zu verwirklichen galt, wozu er sich aufgerufen fühlte beizutragen.

Da Tolstoi nur zu gut die menschlichen Schwächen und Leidenschaften kannte, erschien ihm wiederum kein Gefühl zu gering, um es nicht literarisch zu bearbeiten. Er bemerkte diesmal ohne Anflug moralischer Belehrung: „Die verschiedenartigsten Gefühle, sehr starke und sehr schwache, sehr bedeutende und sehr geringe, sehr schlechte und sehr gute bilden den Gegenstand der Kunst, wenn sie nur den Leser, den Zuschauer, den Zuhörer anstecken. Das Gefühl der Selbstverleugnung und der Ergebung in sein Schicksal oder in Gott, das durch das Drama wiedergegeben wird, oder das Gefühl des Entzückens der Verliebten, das im Roman geschildert wird, oder das Gefühl der Wollust, das auf einem Bilde dargestellt ist, oder das Gefühl des Mutes, das durch einen festlichen Marsch in der Musik wiedergegeben ist, oder das Gefühl der Fröhlichkeit, das durch den Tanz hervorgerufen wird, oder das Gefühl des Komischen, das durch eine lächerliche Anekdote erzeugt wird, oder das Gefühl der Ruhe, das durch eine Abendlandschaft oder ein einschläferndes Lied wiedergegeben wird, - dies alles ist Kunst.“104

Es ist bemerkenswert, dass Tolstoi hier das Gefühl der Wollust zuließ, denn an anderer Stelle hatte er gerade jene Kunstformen gegeißelt, die schöne nackte Körper zeigen, deshalb die Gattung des Aktes diskreditiert, weil er, der Sinnenmensch, das Destabilisierende der Wollust aufs Äußerste fürchtete. Er ging noch einen Schritt weiter und kritisierte das Spektrum der elaborierten Gattungen insgesamt, die nicht jedermann zugänglich sind, da er der festen Überzeugung war, dass Kunst die Lebensangelegenheit eines ganzen Volkes sein müsse. Man kann seine Ausschlussaspekte und seine Widersprüchlichkeit kritisieren und man muss den Zensus seines moralischen Impetus kritisieren. Man darf Tolstoi auch kritisieren, weil er offenbar die Gefahr übersah, bei der Darstellung der menschlichen Gefühle die Grenze zwischen Kunst und Kitsch zu verwischen. Über diesen Grenzbereich entscheidet letztlich der künstlerische Takt, über den sowohl Tolstoi als auch Kandinsky, darüber besteht kein Zweifel, in höchstem Maße verfügten, mit sicherem Gespür die Grenzen dank ihrer Erziehung und Bildung abzustecken wussten. Die zeitgenössische Kritik hat Tolstoi nicht geschont und ihn wegen seiner launenhaften moralischen Urteile mit Anwürfen überzogen. Ihm wurde auch vorgehalten, dass er ganze Segmente der bildlichen, literarischen und musikalischen Produktion, etwa die Dramen William Shakespeares oder die Opern Richard Wagners, nicht gelten lassen wollte.105 Seiner Größe als Schriftsteller tut das keinen Abbruch, aber als Autor einer philosophisch-ästhetischen Schrift hat er sich in Verruf gebracht.

Stefan Zweig hat die Stärken und Schwächen Tolstois in seinem Buch „Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi“ zur Sprache gebracht und wie folgt geurteilt: Es müsse ein Schnitt mit dem Messer gemacht werden „zwischen dem genialen Kulturkritiker, dem irdischen Augengenie Tolstoi und dem verwaschenen, unzulänglichen, launenhaften, inkonsequenten Moralisten, dem Denker Tolstoi, der in einem pädagogischen Anfall … ganz Europa das große Abc des einzig ‚richtigen‘ Lebens, ‚die‘ Wahrheit mit einem erschreckenden Maß an philosophischer Leichtfertigkeit eindrillen will. Kein Respekt beugt sich tief genug vor Tolstoi, solange er, der unbeflügelt geborene, in seiner Sinnenwelt verharrt und mit seinen genialen Organen die Struktur des Menschlichen zerlegt; aber sobald er flughaft frei ins Metaphysische will, wo seine Sinne nicht mehr zupacken, sehen und saugen können, wo all diese sublimen Fangarme zwecklos im Leeren tasten, da erschrickt man geradezu über seine geistige Unbehilflichkeit. Nein, nicht vehement genug kann hier abgegrenzt werden: Tolstoi als theoretischer, als systematischer Philosoph war eine ebenso bedauerliche Selbsttäuschung wie Nietzsche, sein Polargenie, als Komponist.“106

So klar und ungeschminkt das Urteil Zweigs über Tolstoi ausfällt, so souverän hätte Kandinsky sich über alle Kritiken hinwegsetzen können. Denn in „Was ist Kunst?“ fand er eine bedeutende Quelle zur Herausbildung seiner eigenen künstlerischen Positionen und, was die Hochbewertung des Gefühls bei Tolstoi angeht, einen Gewährsmann seiner Couleur, auf den er sich hätte berufen können, ohne jedoch seinen Namen zu nennen. Erblickte Tolstoi in der Kunst ein Medium, die Menschheit zu einen, Gemeinschaft zu stiften, das Gefühl der Brüderlichkeit zu stärken, so stellte sich für Kandinsky das Problem, von Relationen zu handeln, die sich der Sprache entziehen, nur gefühlt, nicht aber gesagt werden können. Gleichwohl lag Kandinsky nicht weniger daran, zur geistigen Entwicklung der Menschheit ebenso beizutragen wie zur Erweiterung des künstlerischen Kosmos, und auch er wollte sich dabei nur auf das Gefühl verlassen, weil alles Gewusste und Gedachte der akademisch-philosophischen Ästhetik nach seinem Dafürhalten keinen Weg zu den metaphysischen Sphären öffnete, die er im Sinn hatte.

95) Tolstoj 1911, S. 65 f.

96) Tolstoj 1911, S. 63.

97) Tolstoj 1911, S. 64.

98) Marc 1978, S. 175.

99) Tolstoj 1911, S. 67.

100) Tolstoj 1911, S. 69.

101) In seinem Text „Rückblicke“ gebrauchte Kandinsky ähnliche Formulierungen: „das Feinmaterielle, genannt ‚das Abstrakte‘“. Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 31.

102) Kunst „… muß der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen – der Bewegung des Dreiecks.“ Kandinsky 1952, S. 134.

103) Vgl. Tolstoj 1911, S. 238.

104) Tolstoj 1911, S. 68 f.

105) Tolstoj 1911. Zu Wagner siehe S. 181 ff.; zu Shakespeare siehe Tolstoi 1968, S. 252-321.

106) Zweig 1928, S. 319 f.