I. Bildgegenstand – Bildform

Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Abb. 1
Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

„1911 konnte kein Mensch das Gegenständliche an diesem Bilde erkennen, was für die Augeneinstellung der damaligen Zeit sehr charakteristisch ist.“

25. März 1927, Kandinsky über „Komposition IV“ in einem Brief an Hans Hildebrandt1

„Komposition IV“ von Wassily Kandinsky (Abb. 1), im Frühjahr 1911 gemalt, ist eines der bekanntesten Werke des Künstlers, das auf großes Interesse in der Forschung stieß. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, eine schlüssige Interpretation des Bildes zu entwickeln, die seinem formalen und farblichen Bestand gerecht wird. Kandinsky selbst hat sich über das Bild in einem tabellarischen Text mit dem Titel „Komposition 4 – Nachträgliches Definieren“ geäußert, den er im März 1911, unmittelbar nach Fertigstellung des Gemäldes, verfasste und im Herbst 1913 bei Herwarth Walden im Berliner Sturmverlag publizierte. Obwohl er zahlreiche Figurationen des Bildes dinglich bezeichnete, von Pferden, Liegenden, einer Burg, Spießen und einer Schlacht sprach, darüber hinaus verschiedene kompositionelle Kraftfelder benannte und über die Besonderheiten der farblichen Gestaltung reflektierte, mutet das Gemälde nach wie vor rätselhaft an.

Auch die Ausführungen in seinem berühmten Traktat „Über das Geistige in der Kunst“, den Kandinsky 1910 im Wesentlichen vollendet hatte, aber erst im Dezember 1911 mit dem Impressum 1912 bei Piper in München veröffentlichte, konnten kaum etwas zur Erhellung des Gemäldes beitragen. Erklärtes Ziel der Schrift ist es, die „Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken.“2 Die Aussage lässt sich geradewegs auf „Komposition IV“ beziehen, da das Bild einen Grenzgang zwischen Konkretion, d. h. gegenständlicher Form und formbezeichnender Farbe, und Abstraktion, d. h. undinglicher Form und gegenstandsunabhängiger Farbe, vollzieht. Man könnte in seiner grundlegenden Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ den Schlüssel zur Deutung seines Gemäldes erblicken, aber auch die Analyse von textlicher und bildlicher Überlieferung hat bisher keine Früchte in dem Sinne getragen, dass sich das Bild in seiner Tiefendimension mitteilt.

Dafür lassen sich vor allem zwei Gründe benennen: Zum einen hat Kandinsky Literatur und Dichtung als Schwesterkünste der Malerei aus ihren tradierten Verbindlichkeiten entlassen und statt ihrer einer musikalischen Malerei das Wort geredet, was insofern bemerkenswert erscheint, als er den einzelnen Farben akustische Qualitäten zuordnete. Das Auditive der Farben suchte er in seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“ näher zu bestimmen, indem er Beziehungen zwischen den Klangfarben der Musikinstrumente und den Farben des Malers knüpfte. So ließ ihn das leuchtende Zinnoberrot an den Klang einer Tuba denken, ein helleres Gelb an den einer Trompete, während ein dunkles Blau dem Cello ähnele, ein tiefes Blau dagegen der Bassgeige. Das Spektrum der Farben, das er auf diesem Wege von den überkommenen symbolischen Kodierungen zu befreien suchte, sollte als Ausdrucksträger emotionaler Qualitäten in den Vordergrund treten, damit die Farben keiner gelehrten Dechiffrierung mehr bedürften, sondern unmittelbar, vergleichbar den Klängen eines Orchesters, auf das Gefühl des Betrachters wirken können.

Zum anderen aber hat Kandinsky gerade in jenen Jahren, als er den abstrakten Gestus seiner Malerei forcierte, was den freien Gebrauch der Farbe einmal mehr begünstigte, eine nicht unerhebliche Anzahl von Werken geschaffen, deren Themen gerade in biblischen Stoffen gründen, sei es das Thema der Sintflut, der Apokalypse oder des Jüngsten Gerichts, allesamt Straf- und Weltuntergangsszenarien, die sich ausnahmslos der schriftlichen Überlieferung verdanken. Je nach Bildform sind die gewählten Themen mal durch die Gegenstände und ihre Konstellation direkt greifbar, mal bildeten sie lediglich den Ausgangspunkt der Bildgestaltung und verflüchtigten sich im Werkprozess vollends. Man könnte vor dem Hintergrund seiner frühen kunsttheoretischen Schriften, was die Verwandtschaft der Künste angeht, von einem ambivalenten Verhältnis sprechen, da er zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht abschätzen konnte, wie sich die Relationen von Literatur und Malerei, von Malerei und Musik, von Farbe und Klang künftig einpendeln würden.

Die Wahl biblischer Themen wird in der Regel damit erklärt, dass sie Kandinsky aufgrund seiner Erziehung zum russisch-orthodoxen Glauben als geeignete Vehikel erschienen, der materialistischen Weltsicht seiner Zeitgenossen und dem Positivismus in den Wissenschaften den Kampf anzusagen, ihnen eine transzendente Kraft entgegenzustellen, die auf eine höhere als die dingliche Welt, nämlich die Welt des Geistes verweist.3 Das ist ohne Einschränkung zu bejahen und lässt die religiöse Bindung Kandinskys erkennen, und zwar ungeachtet der Frage nach seiner religiösen Praxis. Selbst wenn Kandinsky gerade in jenen Jahren ein gewisses Interesse für okkulte und theosophische Weltbilder ent­wickelte,4 schien ihm doch stets bewusst, dass er niemals eine Metaphysik des Geistes, die er herbeisehnte, würde begründen, geschweige denn installieren können. Allenfalls konnte er hoffen, Spuren des uninterpretierten Geistes, den er aus der Trinität des christlichen Gottes isolierte und seiner Heiligkeit beraubte, mit seiner Malerei zu bezeugen.5 Mehr vermochte er nicht.

In Anbetracht der Schwierigkeit, aus abstrakten oder semiabstrakten Gemälden ihren inneren Gehalt herauszulesen, hat man im Fall von „Komposition IV“, so will es scheinen, zur Übertragung Zuflucht genommen, da ein ähnlicher Motivbestand doch eine ähnliche Bedeutung nahelege, auch wenn er in anderen Kontexten auftaucht: So sei das häufig bei Kandinsky anzutreffende Bildthema des galoppierenden oder bewaffneten Reiters, insbesondere in Gestalt des Heiligen Georg, der den Drachen besiegt, Symbol für den Kampf von Gut und Böse, für den Kampf zwischen einer lichten, transzendenten Idee und den düsteren, erdgebundenen Kräften materieller Existenz.6 In diese ihrem Charakter nach neuplatonische Konfiguration fügt sich die Mehrzahl der in Vorschlag gebrachten Interpretationen zu „Komposition IV“ ein: Während die linke Bildhälfte den Kampf antagonistischer Mächte oder auch die Eroberung einer geistigen Welt zum Thema habe, zeige die rechte mit ihrem simultanen, in zwei Phasen dargestellten Paar dessen Auferstehung. Unausgesprochen bleibt jedoch, ob es sich dabei um die Auferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts handeln soll oder um eine Auferstehung als Ausdruck geistiger Läuterung. Mit gutem Grund darf man Zweifel hegen, dass die rechte Bildseite in thematischer Hinsicht richtig erschlossen ist, denn diese Lesart kann sich lediglich auf eine Formanalogie bei den Köpfen der Figuren stützen, die es wiederum erlauben soll, auf eine Simultanszene zu schließen. Das entspricht weder einer ikonografischen Tradition noch Kandinskys wiederkehrenden bildsprachlichen Mitteln. Auch bei der linken Bildhälfte, deren Deutung im Vagen verbleibt, scheinen Präzisierungen nicht nur wünschenswert, sondern geboten.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Deutungsversuche hat die Forschung in einem finalen Akt die Frage aufgeworfen, welcher Gattung der Malerei das Bild zuzurechnen sei. Man hat dafür gehalten, dass es sich um eine Historie handelt, also die höchste Bildform im Concetto der Gattungshierarchie von Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stillleben. Der Versuch einer Einordnung ist deshalb interessant und auch wagemutig, weil sich das System der Gattungshierarchie schon im 18. Jahrhundert angesichts neuer Bildformen als unzureichend und obsolet erwies. Das muss für die Moderne erst recht gelten. Hinzu kommt, dass das Thema des Gemäldes von Kandinsky nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, was die Historienmalerei eigentlich nicht duldet. Auch wäre es von einem kunsthistorischen Standpunkt aus sehr ungewöhnlich, wenn eine Historie in zwei Hälften zerfiele, deren Themen unverbunden nebeneinander stünden. Aus diesen Gründen vielleicht hat man sich mit dem Hinweis beholfen, dass „Komposition IV“ als abstrakte Historie anzusprechen sei.7 Was das ist und wie sie zu verstehen wäre, müsste allerdings erläutert werden. Auch diese Kategorisierung führt leider zu keinem Ergebnis, sondern verschiebt nur das Problem der Inhaltsdeutung. Hält man sich an den Begriff der Ideenkunst statt den der Historie, öffnet sich ein weiteres Feld, dessen Vorzüge darin bestehen, dass man allen kanonischen Bestimmungen entgeht. Das ist im Falle von Kandinsky, der als Begründer der abstrakten Malerei in die Geschichte der Kunst einging, zweifellos sinnvoll.

1) Hildebrandt 1955, S. 328.

2) Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 49.

3) Kandinsky 1952, S. 22, 40 f.; Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 33.

4) Kandinsky 1952, S. 42 f.

5) Vgl. Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 45. Clemens Weiler schrieb 1959 in seiner Monografie über Alexej von Jawlensky mit Blick auf die „Blauen Vier“, das sind Lyonel Feininger, Jawlensky, Kandinsky und Paul Klee: „… ihnen allen war das Streben nach einem ‚Geistigen in der Kunst‘ gemeinsam, das nicht interpretiert werden mußte, aber das ‚verkündet‘ werden sollte.“ Weiler 1959, S. 19. Kandinsky besaß ein Exemplar von Henri Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1912. Vgl. Hahl-Koch 1993, S. 193. Ob er dort Antworten auf seine drängenden Fragen fand, scheint eher zweifelhaft, wenngleich die Schrift dem Intuitiven einen bedeutenden Platz einräumt.

6) Die prononcierteste Interpretation auf der Grundlage älterer Vorschläge entwickelte Ingeborg Besch, auf die hier stellvertretend verwiesen sei. Vgl. Besch 2004, S. 35, 62 ff.

7) Vgl. Thürlemann 1986, S. 112 ff.