Notwendigkeit – Freiheit

Kandinsky und Tolstoi stimmten darin überein, dass der Künstler aus einem inneren Bedürfnis schaffen müsse. Terminologisch favorisierte Kandinsky, wie bereits dargelegt, den Begriff der inneren Notwendigkeit, den er in den Schriften des Kunsttheoretikers Konrad Fiedler vorgezeichnet finden konnte. Fiedler verwendete den Begriff jedoch ausschließlich auf das jeweilige Kunstwerk bezogen, das er zum Gegenstand seiner Analyse wählte. So bemerkte er über die Inszenierung des „Tannhäuser“, der er im Sommer 1894 in Bayreuth beiwohnte: „Vom ersten Aufgehen bis zum letzten Schließen des Vorhangs bewegt sich das Ganze wie ein einheitlicher Organismus, nur einer inneren Notwendigkeit gehorchend. Es bewährt sich dies in den Bewegungen der Massen so gut wie in der Aktion der Einzelgestalten“.107 Und ausführlicher ließ er seinen Korrespondenten über den „Lohengrin“ wissen: „Es würde sehr weit führen, wollte ich Ihnen schildern, wie jedes Einzelne als ein notwendiger Teil des Ganzen dadurch erscheint, daß es zu einem unentbehrlichen Faktor der Gesamtwirkung gemacht ist; auch muß man sehen und hören, was im Grunde doch nur aus dem sinnenfälligen Eindruck ganz begriffen werden kann. Das aber werden Sie aus meinen Andeutungen erkannt haben: indem die Bühnendarstellung unter das Gesetz einer künstlerischen Notwendigkeit gestellt ist, indem alle einzelnen Bestandteile so geordnet und betont sind, daß aus ihrem Gegeneinander- und Zusammenwirken die Anschauung eines Ganzen und gerade dieses Ganzen sich ergeben muß, ist es allein möglich geworden, die innere dramatische Notwendigkeit zum Ausdruck zu bringen.“108 Ob Kandinsky die Schriften Fiedlers kannte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen, aber hier hätte er den zentralen Begriff seines kunsttheoretischen Denkens, den der inneren Notwendigkeit, in seiner bisher gültigen Ausprägung finden können, den er aufgriff und im Verlauf der Ausgestaltung seines kunsttheoretischen Gebäudes geradewegs verabsolutieren sollte.

Die Diskussion um den Begriff der (inneren) Notwendigkeit betrachtete Friedrich Nietzsche mit der kritischen Distanz des Philosophen, da er in aller Deutlichkeit sah, dass ihm ein Korrelat fehlte, das die Entstehung der modernen Kunst ebenso begleitete: das Spielerische, das Unkalkulierte, kurz, das Inkommensurable. Seinen Aphorismus „Das Notwendige am Kunstwerk“ ordnete er unter der Rubrik „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“ in den Werkkomplex „Menschliches, Allzumenschliches“ ein und vermerkte: „Die, welche so viel von dem Notwendigen an einem Kunstwerke reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntnis. Die Formen eines Kunstwerks, welche seine Gedanken zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas Läßliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzutun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heut Vergnügen, morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des Zuckerbrots und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden.“109

Im Gegensatz zu Fiedler und Nietzsche beschränkte Kandinsky den Begriff der inneren Notwendigkeit nicht auf das Kunstwerk, sondern dehnte ihn auf den Künstler aus, indem er, wie schon dargelegt, seiner Leserschaft unterbreitete, dass die „innere Notwendigkeit ( ) aus drei mystischen Gründen (entsteht)“, die unlösbar miteinander verbunden seien: 1. Das Element der Persönlichkeit des Künstlers, 2. das Element der Epoche und 3. das Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen.110 Gegenüber Gabriele Münter, seiner Lebensgefährtin, hat er sich in einem Brief vom 10. August 1904 prosaischer geäußert als in seinem Traktat. Beinahe ungehalten schrieb er: „Ich muß einfach das Ding machen. Später verstehst du noch besser. Du sagst Spielerei! Jawohl! Alles was der Künstler macht ist auch nur Spielerei. Er quält sich, sucht seinen Gefühlen und Gedanken einen Ausdruck zu finden, er spielt mit Farbe, Form, Zeichnung, Klang, Wort etc. Wozu? Grosse Frage! Darüber mal später mündlich. Äußerlich nur Spielerei. Für ihn (den Künstler) hat die Frage ‚wozu‘ wenig Sinn. Er weiß nur ein ‚warum‘. So entstehen Kunstwerke, so entstehen auch Sachen, die noch keine Kunstwerke sind, sondern nur Stationen, Wege zu denselben, die schon auch ein Lichtchen, einen Klang in sich haben. Die ersten und ebenso die Zweiten (die ersten sind ja zu selten) müssen gemacht werden, weil man anders keine Ruhe hat. Du hast ja in Kallmünz gesehen, wie ich male. So mache ich auch alles, was ich machen muss: es ist in mir fertig u. es muss Ausdruck finden. Wenn ich so spiele, so zittert an mir jeder Nerv, im ganzen Körper klingt Musik, und der Gott ist in meinem Herzen.“111

Auch Arnold Schönberg, zu dem Kandinsky nach dem Besuch einer Aufführung seiner Werke am Neujahrstag 1911 Kontakt aufnahm, war der Überzeugung, dass der Künstler aus innerer Notwendigkeit - er sprach sogar von einem inneren Zwang - arbeite. In seinem Aufsatz „Probleme des Kunstunterrichts“ vom Dezember 1910, der Kandinsky am 2. Oktober 1911 zuging,112 nahm schon der erste Satz rein äußerlich die hohe Form eines religiösen Bekenntnisses an: „Ich glaube: Kunst kommt nicht von können, sondern vom Müssen. Der Kunsthandwerker kann. Was ihm angeboren ist, hat er ausgebildet; und wenn er nur will, so kann er. Was er will, kann er; gut und schlecht, seicht und tief, neumodisch und altmodisch – er kann! Aber der Künstler muß. Er hat keinen Einfluß darauf, von seinem Willen hängt es nicht ab. Aber da er muß, kann er auch. Selbst, was ihm nicht angeboren ist, erwirbt er: manuelle Geschicklichkeit, Formbeherrschung, Virtuosität. Aber nicht die der andern, sondern seine eigene. Dieses unter einem Zwang von innen heraus entwickelte Können, dieses Sich-Ausdrücken-Können, ist wesentlich verschieden vom Können des Kunsthandwerkers, das eigentlich doch einen andern ausdrückt als den Autor.“113

Der Subjektivierung des Begriffs der inneren Notwendigkeit, wie bei Kandinsky und Schönberg greifbar, hatte Tolstoi in seiner Schrift „Was ist Kunst?“ Vorschub geleistet, sofern er schrieb: „Die Ursache des Erscheinens der echten Kunst ist das innere Bedürfnis, das angesammelte Gefühl zu äußern“.114 Und: „Ich spreche von drei Bedingungen der Ansteckung der Kunst, im Grunde genommen giebt es nur eine einzige, die letzte Bedingung, daß der Künstler ein innerliches Bedürfnis empfinde, das Gefühl das er wiedergiebt, auszudrücken.“115 Mit Kandinsky und Schönberg, den Nachgeborenen, hielt Tolstoi außerdem dafür, dass das Kunstwerk die Individualität seines Urhebers zum Ausdruck bringen müsse: „Wenn ein Werk die individuelle Eigenart des Gefühles des Künstlers nicht wiedergiebt und deshalb nicht eigenartig ist, wenn es unverständlich ausgedrückt ist oder wenn es nicht aus dem inneren Bedürfnis des Autors entstanden ist, so ist es kein Kunstwerk.“116 Die drei Stimmen belegen hinlänglich, dass es seit den Ausführungen Konrad Fiedlers zu einer Verschiebung des Begriffsinhalts der inneren Notwendigkeit kam, die vor allem die Künstler mit der Maßgabe forcierten, an die Stelle überkommener Kunstregeln das schöpferische Individuum zu setzen, das die Gesetze seiner Kunst in sich selbst findet. Darin liegt, gemessen am Verständnis Fiedlers, die Größe der künstlerischen Selbstbehauptung, freilich um den Preis der semantischen Eindeutigkeit des Begriffs.

Kandinsky dürfte bei der Lektüre von „Krieg und Frieden“ kaum entgangen sein, dass Tolstoi seinen überwältigenden Roman in geschichtsphilosophische Reflexionen einmünden ließ, die neben den Fragen, warum Napoleon Russland überfallen habe und was ihn dazu motivierte, auch die Frage aufwarfen, welche Antworten die Geschichtswissenschaft auf die historischen Ereignisse zu geben vermochte, die Tolstoi ausnahmslos unbefriedigend fand. Vor allem wollte er den Geniebegriff auf Napoleon nicht angewendet wissen, zumal er nichts erklären könne, sondern alleine glorifiziere. Das führte ihn zu der prinzipiellen Überlegung, wie die Handlungen eines Menschen erklärt werden können, und er hob an: „Um uns einen vollständig freien Menschen vorzustellen, der nicht dem Gesetz der Notwendigkeit unterworfen ist, müssen wir ihn uns allein außerhalb von Raum, von Zeit und von aller Abhängigkeit von Ursachen vorstellen.“117 Tolstoi schloss hier an David Humes „Essays Concerning Human Understanding“ von 1748 an und führte aus: „Im ersten Fall, wenn Notwendigkeit ohne Freiheit möglich wäre, kämen wir zu einer Definition des Gesetzes der Notwendigkeit durch eben die Notwendigkeit, das heißt, zu einer bloßen Form ohne Inhalt. Im zweiten Fall, wenn Freiheit ohne Notwendigkeit möglich wäre, kämen wir zur unbedingten Freiheit außerhalb von Raum, Zeit und Ursachen, die ebendeshalb, weil sie durch nichts bedingt und durch nichts begrenzt wäre, nichts wäre oder ein bloßer Inhalt ohne Form.“118 Tolstoi folgert: „Der Verstand drückt die Gesetze der Notwendigkeit aus. Das Bewusstsein drückt das Wesen der Freiheit aus. Freiheit, durch nichts eingeschränkt, ist das Wesen des Lebens im Bewusstsein des Menschen. Notwendigkeit ohne Inhalt ist der Verstand des Menschen in seinen drei Formen. Freiheit ist das, was untersucht wird. Notwendigkeit ist das, was untersucht. Freiheit ist Inhalt. Notwendigkeit ist Form. Nur wenn man die beiden Quellen der Erkenntnis trennt, die sich zueinander als Form und Inhalt verhalten, erhält man die gesonderten, sich wechselseitig ausschließenden und unfassbaren Begriffe von Freiheit und Notwendigkeit. Nur wenn man sie miteinander verbindet, erhält man eine klare Vorstellung vom Leben des Menschen. … Alles, was wir über das Leben der Menschen wissen, ist nur eine bestimmte Beziehung der Freiheit zur Notwendigkeit, das heißt, des Bewusstseins zu den Gesetzen des Verstandes.“119

Tolstois Gedanke einer Interdependenz von Freiheit und Notwendigkeit ist deshalb ausführlicher zitiert, weil der Begriff der Freiheit im kunsttheoretischen Denken Kandinskys so gut wie keine Rolle spielt, während er den Begriff der Notwendigkeit, der inneren Notwendigkeit, geradezu verabsolutierte, was auch insofern erstaunt, als es nahe gelegen hätte, sein Werk unter Berufung auf die künstlerische Freiheit gegen die zahlreichen Angriffe zu verteidigen und nicht zuletzt zu legitimieren. Von dieser Möglichkeit aber hat Kandinsky keinen Gebrauch gemacht. Da er den Begriff der inneren Notwendigkeit, wie von Fiedler und anderen vorgezeichnet, auf die Person des Künstlers ausweitete, er demzufolge in den Handlungsbereich hinüberspielt, erscheint der Begriff der Freiheit, wie Tolstoi ihn explizierte, als unverzichtbares Korrelat. Daraus ergibt sich die Frage, wo und wie der Begriff der Freiheit im Werk von Kandinsky zu greifen ist, sich womöglich versteckt hält, eingedenk der Bestimmungen Tolstois, dass Inhalt Freiheit sei, Form Notwendigkeit. Der Gedanke, dass Form Notwendigkeit sei, der gegebene Inhalt nach einer Ausdrucksform verlange, begegnet in den Schriften Kandinskys allenthalben und erscheint, verglichen mit den Ausführungen Tolstois, unmittelbar anschlussfähig. Was aber den Inhalt betrifft, so insistierte Kandinsky darauf, dass das Werk kosmischen Ursprungs sei, er es kraft des wirkenden Geistes vor seinem geistigen Auge sehe, und er wurde nicht müde zu betonen, dass er wieder und wieder vor der Aufgabe stehe, eine angemessene Form für den gegebenen Inhalt zu finden, der nur gefühlt werden könne. Aus den Selbstzeugnissen des Künstlers speist sich das Wissen um die Vormachtstellung des abstrakten Geistes im Denken Kandinskys, der den prädestinierten Inhalt120 eingibt und, wie der Maler sagte, durch das Kunstwerk fortwirkt. Nur an einer Stelle, und zwar in seiner 1919 verfassten „Selbstcharakteristik“, bekannte Kandinsky, dass die „absolute Freiheit des Künstlers ( ) durch die innere Notwendigkeit beschränkt (wird)“.121 Es zeigt sich, dass er die Überlegungen Tolstois offenbar genauestens kannte und eine präzise Vorstellung der Verflechtung von Freiheit und Notwendigkeit entwickelt hatte, die er zugunsten der inneren Notwendigkeit entschied.

Sieht man einmal vom theoretischen Überbau Kandinskys ab und vergegenwärtigt sich seine Arbeitsweise, so ergeben sich graduelle Verschiebungen, die ein modifiziertes Bild entwerfen. Die Analyse von „Komposition IV“ hat gezeigt, dass ihr Inhalt sich mehr dem literarisch gebildeten Ingenium Kandinskys verdankt als einem namenlosen Geist, seiner Kenntnis der Schriften Tolstois, der Erzählung „Die Kosaken“ und des Romans „Krieg und Frieden“. Man muss an dieser Stelle konzedieren, dass der erschlossene Gehalt von „Komposition IV“, welche die Liebe und die Freiheit in den Rang eines Weltsinns hebt, in einer säkularisierten, materialistischen und zunehmend narzisstischen Welt das Maß des Sagbaren wohl übersteigt, denn dem Sinnhorizont sind gleichermaßen Dimensionen des Utopischen und des Religiösen zu eigen, die zwar auf ein allgemeines Verständnis rechnen könnten, aber doch kaum mehr verstanden werden. „Komposition V“, die das Thema des „Jüngsten Gerichts“ zum Gegenstand hat, und „Komposition VI“, die eine „Sintflut“ vor Augen stellt, gründen in Kandinskys profunder Kenntnis der Bibel. Bei den drei genannten Kompositionen handelt es sich ausnahmslos um literarisch inspirierte Werke, die Kandinsky, völlig ungebunden und im Stand künstlerischer Freiheit, wählte, auch wenn für den jeweiligen Bildanlass besondere Gründe vorzuliegen scheinen, im Falle von „Komposition IV“ der Tod Tolstois. Man kann daher schwerlich zu einem anderen Schluss gelangen, als dass er die Freiheit seiner künstlerischen Entscheidungen hinter der konstatierten Wirkmacht des abstrakten Geistes verbarg, wenngleich sie zu seinen unveräußerlichen Gütern zählte. Offenbar kam Kandinsky nicht umhin, zur Rechtfertigung der abstrakten Malerei und seiner quasi-religiösen Inhalte eine höhere Instanz aufzurufen, die sich, und darin besteht wohl die Weisheit seines Arguments, der Kritikfähigkeit entzog. Man muss das weder abtun noch desavouieren, sondern kann seine Argumentation vielmehr als gelungenen Schachzug verstehen, durch den er sich der Angriffe auf sein Werk erwehren konnte, ohne seine Inspirationsquellen preiszugeben. Insofern lässt sich sagen, dass Kandinsky bei aller Beredsamkeit die letzten Geheimnisse seiner Kunst nicht vor seiner Leserschaft ausbreitete, was seiner erklärten „Neigung zum ‚Versteckten‘, zum Verborgenen“ entgegenkam.122

107) Fiedler 1991, Bd. 2, S. 331.

108) Fiedler 1991, Bd. 2, S. 334.

109) Nietzsche 1960, Bd. 1, S. 560.

110) Kandinsky 1952, S. 80.

111) Zit. nach München 1982, S. 133.

112) Kandinsky/Marc 1983, S. 62.

113) Schönberg 1976, S. 165.

114) Tolstoj 1911, S. 277.

115) Tolstoj 1911, S. 222.

116) Tolstoj 1911, S. 223.

117) Tolstoi 2010, Bd. 2, S. 1072.

118) Tolstoi 2010, Bd. 2, S. 1072 f.

119) Tolstoi 2010, Bd. 2, S. 1073 f.

120) Der Weg des Künstlers, „seine Sturm- und Drangperiode, sein ‚Suchen‘ in der Kunst ist von Anfang bestimmt. Das heißt bestimmt, unabänderlich prädestiniert ist der Inhalt seiner Kunst.“ Kandinsky 1980, Werdegang, S. 51.

121) Kandinsky 1980, Selbstcharakteristik, S. 61.

122) Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 37.