Invention – Ruhm

Obwohl die Herausgeber des Almanachs die aufgenommenen Kunstwerke aus ihrem jeweiligen Kontext und ihren geschichtlichen Zusammenhängen lösten, hatten sie doch ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Historizität jedes Kunstwerks. Das geht unmissverständlich aus den oben zitierten Bemerkungen Kandinskys hervor, insbesondere den Ausführungen in seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“. Man könnte das Vorgehen von Kandinsky und Franz Marc als Widerspruch empfinden, den Kandinsky bei Gelegenheit jedoch als Aspekt einer höheren, bisher nicht verstandenen Harmonie apostrophierte. Da es den Malern vorrangig um die Ausdrucksqualitäten und das emotionale Potenzial der integrierten Kunstwerke ging, verstießen sie mit ihrem Künstlerbuch gegen beinahe alle akademischen Ordnungskriterien und Wissensbestände, indem sie Hierarchien einebneten, Grenzzäune umwarfen, Heterogenes vereinten, Werke namhafter Künstler mit denen namenloser Autoren konfrontierten und Ungleichzeitiges zusammenbanden. Allerdings ließen sie ein Fundament der akademischen Kunstgeschichtsschreibung unberührt: das der künstlerischen Invention, das seit den Anfängen der neuzeitlichen Kunsttheorie demjenigen Ruhm sicherte, der mit seinem Werk etwas nie Gesehenes schuf und auf diesem Weg der Geschichte der Kunst neue Impulse zu geben vermochte. Auch wenn Kandinsky sich als Erfinder der gegenstandslosen Malerei wähnte, was ihm auf alle Zeiten einen herausragenden Platz im Universum der bedeutenden Künstler sichern würde, war er sich keineswegs gewiss, dass kein Zweiter ihm den Rang streitig machen könnte. Nicht umsonst, und offenbar von Sorgen geplagt, betonte er mehrfach, dass er im Jahre 1911 sein erstes abstraktes Gemälde geschaffen habe, das den Titel „Bild mit Kreis“ trägt.134 Das Beharrungsvermögen, mit dieser zeitlichen Einordnung als Urheber der abstrakten Malerei zu gelten, das Kandinsky an den Tag legte, speiste sich nicht zuletzt durch die Publikation des „Handbuchs der Kunstwissenschaft“ aus der Feder Hans Hildebrandts, der 1924 den achtzehnten Band der Reihe veröffentliche und „Die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts“ behandelte. Hildebrandt stellte Kandinsky sowohl im Kontext der Münchner Expressionisten als auch unter dem Aspekt einer absoluten, d. h. ungegenständlichen Malerei dar, aber damit war noch keineswegs ausgemacht, dass ihm tatsächlich der Ruhm des Begründers der abstrakten Malerei zukommen würde, zumal Hildebrandt weitere Künstler anführte, die, wie er versichern sollte, schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und damit vor Kandinsky, abstrakte Formen in ihrem Werk erkennen ließen.

Mit einem Brief, am 24. Januar 1937 in Neuilly sur Seine verfasst, bedankte sich Kandinsky für Hildebrandts Buch, das er, wie sein Autor im Nachgang berichtete, „kurz zuvor erhalten hatte“, wahrscheinlich als Geschenk.135 Kandinsky schrieb: „Verehrter lieber Herr Professor Hildebrandt, mit sehr großem Interesse habe ich verschiedene Kapitel in Ihrem Buch „Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ gelesen, besonders die Kapitel, die über den Sinn des 19. Jahrhunderts und den Sinn des Überganges zur neuen Kunst geschrieben sind. Alles m. M. nach sehr vielseitig, lebendig, zur Wurzel gehend. Auch über einzelne Künstler habe ich viele Definitionen, Charakteristiken gelesen, die sehr umfassend sind. Das ganze Buch ist tatsächlich ein massgebendes, wichtiges Werk, und ein bleibendes. Aber welche Arbeit haben Sie geleistet! Wirklich ein ‚Monumentalbau‘! Ich freue mich sehr, das Buch zu besitzen. Da aber ‚auch die Sonne Flecken aufweist‘, sind mir auch hier einige Fleckchen und kleine Lücken aufgefallen. Ich denke, es wird Sie interessieren, etwas darüber von mir zu hören.“136

Kandinsky wies Hildebrandt darauf hin, dass im Gefolge von Ilja Jefimowitsch Repin, dem großen russischen Realisten, eine ganze Reihe bedeutender realistischer Maler angeführt zu werden verdienten, an erster Stelle Wassily Iwanowitsch Surikoff, gerade weil sie im Westen Europas keinem größeren Publikum durch Ausstellungen etwa bekannt geworden seien. Hinzu kämen eine „gewisse Stimmungsmalerei“, deren Aufkommen sowohl in Moskau als auch in Sankt Petersburg beobachtet werden konnte, dann eine „romantische ‚Retrospektive‘ Malerei“, schließlich eine „Theatermalerei“, die deshalb Erwähnung verdiene, weil Russland das erste Land gewesen sei, dass diese Aufgabe keinen Dekorations- oder Fachmalern überließ, sondern „richtige Künstler“ an die Theater berief, wo sich ihnen neue Perspektiven eröffneten.137 Hildebrandt kam nicht umhin zu konzedieren, dass in Westeuropa tatsächlich nur jene russischen Künstler Beachtung gefunden hätten, die auch außerhalb ihrer Heimat wirkten, wie Marc Chagall, Alexander von Bechtejeff, Kasimir Malewitsch, El Lissitzky, Alexander Archipenko und nicht zuletzt Wassily Kandinsky. Unkommentiert nahm der Autor die Einwände gegen die aufgezeigten Lücken in seiner Darstellung der russischen Kunst des 19. Jahrhunderts hin, wenngleich er aus seiner präzisen Kenntnis der Kunst des 20. Jahrhunderts die angemeldeten Bedenken Kandinskys zurückwies, obwohl sie gerade sein Werk betrafen.

Kandinsky ließ die Aussage Hildebrandts, dass „Adolf Hölzel in Stuttgart, Otto Meyer in Amden, Augusto Giacometti in Zürich … um 1910 neben Kandinsky zur reinen Abstraktion gelangt“ seien,138 hellhörig werden. Es versteht sich von selbst, dass die getroffene Feststellung Kandinsky beunruhigte, da hier Künstler genannt wurden, die ihm den Rang als Begründer der gegenstandslosen Malerei streitig machen könnten. Die im Ungefähren verbleibende Datierung zur Entstehung der abstrakten Malerei musste die Frage der Priorität wie einen Wettlauf gegen die Zeit erscheinen lassen. Außerdem dürfte Kandinsky irritiert haben, dass Hildebrandt als kritischer, unabhängiger Kunsthistoriker sein Werk kontextualisierte, die langsam sichtbar werdende Abstraktion im OEuvre des Malers nicht als einzelne künstlerische Tat betrachtete, sondern als einen erkennbaren Zug der Zeit, was die Vorstellung, dass das künstlerische Ingenium nur aus sich heraus arbeite und dank seiner Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit zu singulären Lösungen gelange, in Frage stellte.139 Kandinsky sah sich daraufhin zu folgender Erklärung veranlasst: „Was mich anbelangt, habe ich mein erstes abstr. Gemälde 1911 gemalt. Die Anläufe dazu von vorhergehenden Jahren kann ich nicht Abstraktion nennen (d. h. meine Anläufe), obwohl der Gegenstand ( ) auch schon damals vielleicht nicht mehr zu erkennen (war). Und die genannten 3 Künstler haben sie tatsächlich um 1910 abstr. Bilder gemalt?“140 Die wörtliche Entgegnung Hildebrandts ist nicht überliefert, aber aus der Erinnerung hielt er 1955 das Folgende fest: „Kandinsky äußerte sein Erstaunen, daß meinem Handbuchband zufolge gleichzeitig mit ihm auch Adolf Hoelzel, Otto Meyer-Amden und Augusto Giacometti sich mit dem Problem gegenstandsloser Malerei befaßt haben sollten. Was jedoch zutrifft. Hoelzels graphische Versuche dieser Art und farbtheoretische Übungen zusammen mit seinen Schülern setzten schon vor seiner Berufung nach Stuttgart (1906) ein. Otto Meyer hat das Problem in seinen Stuttgarter Jahren (1908-1912) mit tiefem Ernst verfolgt. Ausgehend von einfachen Motiven (Kopfprofil, Maiglöckchen-Umriß usw.), gelangte er auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten des Formenaufbaus innerhalb der viereckigen Fläche zu rein geometrisierenden Bildungen, deren rhythmisches Gefüge den dinghaften Ursprung nicht mehr ahnen läßt. Oskar Schlemmer deutet es in seiner umfassenden Otto-Meyer-Monographie, Johannespresse Zürich 1934, mehrfach an, und Willi Baumeister erinnert sich genau an einen bestimmten dieser gegenstandslosen, leider verschollenen Versuche. Giacometti zeigte mir um 1910 rein abstrakte Analysen der Farbklänge, die ihn an den Mosaiken zu Ravenna begeistert hatten. Doch führten die Experimente dieser drei nicht zu Bildkunstwerken, die auch für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Daher konnte meine Antwort Kandinsky versichern, daß das Verdienst, die große allgemeine Bewegung gegenstandsloser Malerei ins Leben gerufen zu haben, auch nach meiner Überzeugung ihm gebühre. Kandinsky war mit dieser Erklärung zufrieden“.141

Es zeigt sich, dass der Maler aufmerksam die Einordnung und Deutung seines Werks in der akademischen Literatur verfolgte, sie kommentierte und zu korrigieren suchte, sofern es ihm nötig erschien. Die Frage der Priorität wollte er nicht dem Spiel des Zufalls überlassen. Dass er sich in der öffentlichen Wahrnehmung beachtlicher Aufmerksamkeit erfreute, ist fraglos das Ergebnis seiner zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen sowie einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit, die in den Jahren 1911/12 einen ersten Zenit erreichte. Die fortwährende Aktivität, sein Werk öffentlich zu präsentieren, trug wesentlich dazu bei, dass sich die Idee der gegenstandslosen Malerei mit seinem Namen verband. Vor diesem Hintergrund erscheinen die gelegentlichen Fehldatierungen einzelner Werke in neuem Licht, insbesondere im Falle des „Ersten Abstrakten Aquarells“, das Kandinsky mit der Jahreszahl 1910 versah, wenngleich die Forschung es heute für unstrittig hält, dass das Blatt 1913 im Zuge der Entwurfsarbeiten für „Komposition VII“ entstand. Die aufgezeigte Chronologie des Künstlers, dass er sein erstes abstraktes Gemälde 1911 schuf, lässt die Datierung des Aquarells im Horizont strategischer Absichten erscheinen. In der Regel wird der Fehler mit dem Hinweis überspielt, dass Kandinsky seine Werke oftmals nachträglich, manchmal erst in Abstand mehrerer Jahre datierte und signierte. Im Falle des „Ersten Abstrakten Aquarells“ aber ist das Vorgehen zu durchsichtig, als dass man es für Zufall halten könnte. Zu viel hing von der zeitlichen Einordnung seiner ersten abstrakten Arbeiten in die Jahre 1910/11 ab, da mit Hildebrandts Buch ungeahnte Konkurrenten auf den Plan traten, die sein Verdienst hätten relativieren können. Deutlich spürt man das Bemühen, sich den Ruf als Urheber der abstrakten Malerei zu sichern und die Deutungshoheit über das eigene Werk zu wahren, weil nur sie, so die Vorstellung, vor gravierenden Fehleinschätzungen schützen könne. Man kann das nicht ganz abweisen, denn ohne die Selbstzeugnisse des Künstlers, könnte es schwerlich gelingen, die Tiefendimensionen seiner Werke zu erschließen. Das heißt aber nicht, dass der Künstler sein erster und prädestinierter Interpret ist.

134) Hahl-Koch 1990, S. 97; vgl. Roethel/Benjamin 1982, Bd. 1, S. 391, Nr. 405; Roethel/Benjamin 1977, S. 772-773.

135) Hildebrandt 1955, S. 327. Es ist anzunehmen, dass Hildebrandt die Neuauflage des Jahres 1931 Kandinsky übersandte.

136) Hildebrandt 1955, S. 328.

137) Hildebrandt 1955, S. 328.

138) Hildebrandt 1924, S. 398.

139) Vgl. Müller 2004, S. 83ff.

140) Hildebrandt 1955, S. 329.

141) Hildebrandt 1955, S. 327f.