Geistige Entwicklung - Geistiges Dreieck

Schon die englischen Übersetzer und Herausgeber der Schriften Kandinskys, Kenneth C. Lindsay und Peter Vergo, bemerkten: „Despite Kandinsky’s disdain of Tolstoy’s book, he was evidently impressed by aspects of his thought. There is a marked resemblance between the beginning of the second chapter of Kandinsky’s On the Spiritual in Art and Tolstoy’s description of the spiritual progress of mankind.”72

Im sechsten Kapitel seines Buches „Was ist Kunst? heißt es bei Tolstoi über die geistige Entwicklung der Menschheit: „Die Menschheit schreitet ununterbrochen von einem niedrigen, teilweisen und unklaren Verständnis des Lebens zu einem höheren, umfassenden und klaren fort. Und wie in jeder Bewegung, so giebt es auch in dieser weiter Vorgeschrittene; es giebt Menschen, die klarer als andere den Sinn des Lebens begreifen und unter diesen ist immer einer, der diesen Sinn des Lebens durch Lehre und Leben klarer, verständlicher und nachdrücklicher bekannt hat. Die Lehre dieser Menschen von dem Sinne des Lebens nennt man, unter Einschluß der abergläubigen Legenden und Zeremonien, die sich gewöhnlich mit dem Andenken jener verbinden, Religion. Die Religionen sind die Merksteine jenes, den erleuchtetsten Menschen der jeweiligen Gesellschaft und der jeweiligen Zeit zugänglichen Verständnisses des Lebens, dem alle anderen Menschen jener Gesellschaft sich unvermeidlich und ständig nähern. Und deshalb dienten und dienen stets nur die Religionen als Grundlagen für die Wertung der Gefühle der Menschen. Wenn sich die Gefühle der Menschen dem von der Religion aufgestellten Ideal nähern, mit ihm übereinstimmen, ihm nicht widersprechen, dann sind sie gut; wenn sie sich von ihm entfernen, nicht mit ihm übereinstimmen, ihm widersprechen, dann sind sie schlecht.“73

Bei Kandinsky trat an die Stelle des Religionsstifters, wie Tolstoi ihn zeichnete, der Künstler, dem es am Bezwingenden beglaubigter ethischer Prinzipien gleichermaßen mangelt wie an der Gabe zu prophetischer Weissagung. Er kann nur auf seine Kunst verweisen und muss Unwissenheit und Ungewissheit ertragen, ob er von seinen Zeitgenossen verstanden wird. Er kann sich auch, so deutet es Kandinsky wenigstens an, gefällig machen, um der allgemeinen Anerkennung willen oder des pekuniären Erfolgs, was vom strengen Standpunkt künstlerischer Aufrichtigkeit kein Verdienst darstelle. Nur der wahrhaftige Künstler, der aus innerer Notwendigkeit handele, kann Anspruch darauf erheben, zur geistigen Entwicklung der Menschheit beizutragen.

„Ein großes spitzes Dreieck in ungleiche Teile geteilt, mit der spitzesten, kleinsten Abteilung nach oben gewendet – ist das geistige Leben schematisch richtig dargestellt. Je mehr nach unten, desto größer, breiter, umfangreicher und höher werden die Abteilungen des Dreiecks. Das ganze Dreieck bewegt sich langsam, kaum sichtbar nach vor- und aufwärts, und wo ‚heute’ die höchste Spitze war, ist ‚morgen’ die nächste Abteilung, d. h. was heute nur der obersten Spitze verständlich ist, was dem ganzen übrigen Dreieck eine unverständliche Faselei ist, wird morgen zum sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens der zweiten Abteilung.

An der Spitze der obersten Spitze steht manchmal allein nur ein Mensch. … Und die, die ihm am nächsten stehen, verstehen ihn nicht. … So stand beschimpft zu seinen Lebzeiten auf der Höhe Beethoven allein. Wie viele Jahre wurden gebraucht, bis eine größere Abteilung des Dreiecks an die Stelle gelangte, wo er einst einsam stand. … In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder von denselben, der über die Grenzen seiner Abteilung hinaufblicken kann, ist ein Prophet seiner Umgebung und hilft der Bewegung, der widerspenstigen Karre. Wenn er aber nicht dieses scharfe Auge besitzt, oder dasselbe aus niederen Zwecken und Gründen mißbraucht oder schließt, dann wird er von allen seinen Abteilungsgenossen völlig verstanden und gefeiert. Je größer diese Abteilung ist (also je tiefer sie gleichzeitig liegt), desto größer ist die Menge, der des Künstlers Rede verständlich ist. Es ist klar, daß eine jede solche Abteilung nach dem entsprechenden geistigen Brot bewußt oder (viel öfter) gänzlich unbewußt hungert. Dieses Brot wird ihr von ihren Künstlern gereicht und nach diesem Brot wird morgen schon die nächste Abteilung greifen.“74

Kandinskys Denkfigur des Dreiecks, bei dem es sich um ein gleichseitiges oder gleichschenkeliges handeln dürfte, lässt unweigerlich an das göttliche Dreieck, das die Trinität symbolisiert, denken, so wie die Metapher des „geistigen Brots“ das Abendmahl vergegenwärtigt. Die christlich-religiösen Konnotationen drängen sich geradewegs auf, wenngleich noch wahrscheinlicher ist, dass Kandinsky bei der Abfassung des Manuskripts das Modell einer ständisch organisierten Gesellschaftspyramide vor Augen hatte. Es versteht sich von selbst, dass es ihm nicht um den gesellschaftlichen Rang bestimmter Gruppen oder einzelner Personen ging, sondern allein um den Grad des künstlerischen Verständnisses oder der Durchgeistigung seiner Zeitgenossen. Ungebrochen ist bei ihm wie bei Tolstoi der Glaube an die Entwicklung des Menschen als geistiges Wesen, das beständig nach Vervollkommnung strebt oder durch das Wirken eines geistigen Prinzips mit fortgezogen wird und auf diesem Wege eine höhere Stufe der Sensibilität und Erkenntnis erreicht. Obwohl die christliche Religion das Bewusstsein Kandinskys maßgeblich prägte, lässt sich gerade im Vergleich mit Tolstoi sagen, dass sich der gedankliche Horizont des Künstlers nicht mehr aus dem religiösen Bewusstsein speiste, sondern seine Wurzeln im Spirituellen hatte. Während der alte, siebzigjährige Tolstoi auf Distanz zu seinem früher geschaffenen Werk ging und nicht das Schöne, sondern das Gute im Kunstwerk gespiegelt sehen wollte,75 verweigerte ihm Kandinsky in diesem Punkte die Gefolgschaft, obwohl er zahlreiche Gemälde religiösen Inhalts schuf. Denn das ethisch Gute im Sinne der christlichen Religion war für Kandinsky nicht identisch mit dem künstlerisch Gebotenen: „Es gibt … viele Menschen, die in einer geistigen Form den Geist nicht sehen können. So sehen gerade heute viele den Geist in der Religion, in der Kunst nicht.“ 76 Hier wird eine Grenzlinie zwischen dem Maler und dem Schriftsteller sichtbar, die kaum eine Annäherung erlaubte. Kandinsky wollte sich mit seiner Arbeit nicht in den Dienst der Religion stellen, wie es Generationen von Künstlern vor ihm getan hatten, sondern wünschte vielmehr, „die große Epoche des Geistigen“ heraufziehen zu sehen, und hoffte auf eine dritte Offenbarung, „die Offenbarung des Geistes. Vater – Sohn – Geist.“77 Den Geist, den Kandinsky erwartungsvoll beschwor, isolierte er aus der göttlichen Trinität und entkleidete ihn seiner Heiligkeit. Auf diesem Weg lässt sich zwar seine Herkunft beschreiben, nicht aber seine Realität noch das, was er repräsentiert. Nur so viel vermochte Kandinsky zu sagen, dass dieser Geist ein schaffender Geist sei, „welchen man als den abstrakten Geist bezeichnen kann“.78

Darüber hinaus konfrontiert Kandinsky seine Leser mit der noch schwieriger zu denkenden romantischen Idee, dass der namenlose Geist sich auch in der Materie verbirgt: „So ist hinter der Materie, in der Materie der schaffende Geist verborgen. Das Verhüllen des Geistes in der Materie ist oft so dicht, daß es im allgemeinen wenig Menschen gibt, die den Geist hindurchsehen können.“79 Wenn der ihn bewegende Geist sowohl das Atom als grundlegende Form der Materie als auch das menschliche Bewusstsein als höchsten Ausdruck der sich selbst organisierenden Materie erfüllt, dann muss er notwendig in allem vorkommen, folglich in der gesamten Natur wirksam sein. Mit seiner denkbar knappen Bemerkung über die Durchgeistigung der Materie, die keinen anderen Schluss zulässt, als dass die gesamte Natur, mithin der Kosmos geisterfüllt sei, entfernt sich Kandinsky von den Lehren der christlichen Religion, da sie keine Aussagen über die Natur der Materie trifft, allenfalls in der Weise, dass sie, das verbürgt das Alte Testament, gottgeschaffen sei. Dieses Bewusstsein, von dem Kandinsky in seinem Aufsatz „Über die Formfrage“ Zeugnis ablegte, lässt sich als romantisch inspiriertes, spirituelles Bewusstsein bezeichnen.

72) Kandinsky 1982, Bd. 2, S. 869 Anm. 4.

73) Tolstoj 1911, S. 74 f.

74) Kandinsky 1952, S. 29 f.

75) Tolstoi hielt beispielsweise die alttestamentliche Josephsgeschichte für ebenso vorbildlich wie „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Tolstoj 1911, S. 242.

76) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 132-136.

77) Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 45.

78) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 132.

79) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 132.