Innere Notwendigkeit

Kandinskys Vorstellungskreis eines Geistprinzips in der Natur verdankte sich religiösen und naturphilosophischen Anschauungen. Das Anliegen des Künstlers bestand nun freilich nicht darin, die Arbeit des Theologen, des Philosophen oder des Physikers zu verrichten. Ihm lag vielmehr daran, Einblick in sein Denken zu geben und das kosmische Geistprinzip als in der Sphäre der Kunst wirksames zu behaupten. Denn es ist dieser Geist, so ließ er seine Leser wissen, der ihn zur künstlerischen Arbeit ruft, ihn antreibt und ihm den Inhalt seiner Arbeit eingibt: „Die Entstehung des Werkes ist kosmischen Charakters. Der Urheber des Werkes ist also der Geist. Das Werk existiert also abstrakt vor seiner Verkörperung, die den menschlichen Sinnen das Werk zugänglich macht.“80 An anderer Stelle schrieb er: „Die gegenwärtige Kunst … spiegelt nicht nur den schon eroberten geistigen Standpunkt ab, sondern sie verkörpert als eine materialisierende Kraft das zur Offenbarung gereifte Geistige.“81 Und in ähnlicher Weise hielt er bei anderer Gelegenheit fest: „Das Kunstwerk ist der durch die Form redende, sich offenbarende und weiter befruchtende Geist.“82 Unter diesen Voraussetzungen könnte man meinen, dass der Künstler sich als Medium des tätigen Geistes, als Organ eines abstrakten geistigen Prinzips begriff, dem er gewissermaßen als Priester diente.83 Zu einem gewissen Grade scheint das tatsächlich seinem Verständnis entsprochen zu haben, was aber nicht bedeutet, dass Kandinsky das Schöpferische seiner künstlerischen Arbeit negiert hätte. Das geht aus seinen Bemerkungen über die Form-Inhalt-Problematik hervor. Nach dem Dafürhalten Kandinskys kann nur der Künstler, der ein bestimmtes Werk geschaffen hat, beurteilen, in welchem Maße der gegebene Inhalt und die gefundene Form zusammenkommen: „Die Form ist der materielle Ausdruck des abstrakten Inhaltes. Deshalb kann die Qualität des Kunstwerkes ausschöpfend nur durch seinen Verfasser definiert werden: Nur er allein besitzt die Gabe, zu sehen, ob und wie weit die von ihm gefundene Form dem Inhalt entspricht, welcher gebieterisch eine Verkörperung verlangt.“84 Wie aber findet der Künstler die angemessene Form für den Inhalt, den sein Werk mitzuteilen sucht?

Das Problem der künstlerischen Formfindung stellte sich Kandinsky wie jedem anderen Künstler auch, nur mit dem Unterschied, dass er für sich reklamierte, seine Entscheidungen auf das „Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele“ zu gründen.85 Das galt gleichermaßen für die Farb- wie für die Formkomplexe eines Kunstwerks, die er je einzeln behandelte. Während er dem Gedanken schon früher Ausdruck verliehen hatte, dass jeder Farbe ein spezifischer Klang eigen sei, die Seele quasi ein Klavier mit vielen Saiten, das Auge der Hammer und die Farbe die Taste, so sollte das fortan auch für jede Form gelten. Als Beispiel wählte er einen Buchstaben, über den er bemerkte, dass er zunächst als zweckmäßiges Zeichen diene, dann als Form wirke und schließlich wie jede andere Form einen inneren Klang erzeuge.86 Er schwang sich zu der Folgerung auf, dass „die äußere Wirkung [einer Form] eine andere sein kann als die innere, die durch den inneren Klang verursacht wird, was eins der mächtigsten und tiefsten Ausdrucksmittel in jeder Komposition ist.“87 Kandinsky betrachtete es als unabdingbar, dass die Formen und Farben eines Kunstwerks gleichermaßen aus dem „Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele“ hervorgehen, was er in einem finalen Akt als „Prinzip der inneren Notwendigkeit“ bezeichnete.88

Hatte der Maler bisher vornehmlich das Kunstwerk im Blick, so schließt sein Begriff der inneren Notwendigkeit auch den Künstler in seiner individuellen und zeitgebundenen Existenz ein, wie aus einer nachgereichten Erklärung hervorgeht, deren Gründe weit weniger mystisch erscheinen, als Kandinsky dachte: „1. hat jeder Künstler, als Schöpfer, das ihm Eigene zum Ausdruck zu bringen …, 2. hat jeder Künstler, als Kind seiner Epoche, das dieser Epoche Eigene zum Ausdruck zu bringen …, 3. hat jeder Künstler, als Diener der Kunst, das der Kunst im allgemeinen Eigene zu bringen …“.89 Während die beiden ersten Aspekte heute als unerlässliche Voraussetzungen eines jeden Kunstwerks gelten, erschließt sich der dritte nicht ohne weiteres. Kandinsky setzte daher folgende Ergänzung in Parenthese: „(Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen, welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten geht, im Kunstwerke jedes Künstlers, jeder Nation und jeder Epoche zu sehen ist und als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit kennt).“90 Da der Maler auf der vorherigen Seite seines Traktates bekannte, dass sich „wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt“,91 lässt sich eine Vorstellung von den universellen Dimensionen gewinnen, die er mit seiner Ergänzung eher anschlug als ausmaß.

Das Prinzip der inneren Notwendigkeit muss also in Ansehung der oben zitierten Ausführungen gestaltenden Einfluss auf das Kunstwerk nehmen, und zwar vermittels der Entscheidungen des Malers, der seinem Bild jene Gestaltqualitäten angedeihen lassen möchte, dass es fähig wird, die menschliche Seele beziehungsweise das Gefühl anzusprechen. Kandinsky verband mit seinem Werk nicht die Idee, den Verstand herauszufordern oder das Assoziationsvermögen zu stimulieren, sondern hob alleine auf jene Berührungsqualitäten ab, als deren Adressaten er das Gefühl bestimmte. Das bestätigte er einmal mehr in seinem Text „Wohin geht die ‚Neue‘ Kunst?“ von 1911: Wenn „man … Bilder betrachtet, soll man ebenfalls nicht verstehen und wissen, sondern ganz ausschließlich mit offener Seele fühlen. Kunst ist das lebende Antlitz nicht des Verstandes, sondern ganz ausschließlich des Gefühls.“92 Die Betonung des Emotiven hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er seinen Werken abstrakte Inhalte eingab, deren Bedeutungsdimensionen sich gerade dadurch auszuzeichnen scheinen, dass das, was als Inhalt firmiert, offenbar nicht gesagt, nicht formuliert, nicht sprachlich ausgedrückt, wohl aber gefühlt werden kann. Diese Unbestimmtheit muss insofern nicht verwundern, als Kandinsky das „zur Offenbarung gereifte Geistige“, das intuitiv Erfasste des Unendlichen zum Gegenstand seiner Kunst wählte, das selbstredend im Vagen verbleibt. Entließ er ein Kunstwerk und erklärte es für vollendet, musste in ihm das Unsagbare, aber Fühlbare aufscheinen und das Werk muss fortan als selbstständiger Organismus wirken, der sein emotives Leben verströmt. Wäre es anders, würde sich das Kunstwerk erübrigen. Das bedeutet letztlich, dass das dem Kunstwerk Inhärente für einen Außenstehenden wie den Betrachter zugänglich sein muss. Nur auf diesem Wege kann sich das Kunstwerk legitimieren, andernfalls würde es im rein Subjektiven seines Urhebers verharren, ohne einen Anspruch auf allgemeines Interesse erheben zu können.

Für die geplante Publikation des Salons Isdebsky verfasste Kandinsky einen Text, der im Deutschen den Titel „Inhalt und Form“ trägt und vom Februar 1911 datiert. In diesem Text gab Kandinsky einen Einblick, wie er das Verhältnis von Künstler, Kunstwerk und Betrachter dachte. Er schrieb: „Zu Zeiten, wo die Seele mit dem Körper verbunden ist, kann die Seele gewöhnlich jede Vibration nur durch die Vermittlung des Gefühls empfangen, welches eine Brücke vom Unmateriellen zum Materiellen (Künstler) und vom Materiellen zum Unmateriellen (Empfänger) bildet. Emotion - Gefühl - Kunstwerk - Gefühl - Emotion. Die Seelenvibration des Künstlers muß deshalb eine materielle Form als Ausdrucksmittel finden.“93 An anderer Stelle wird deutlicher, wie sich die denkwürdige Differenz von Gefühl und Emotion auflösen lässt. Während Kandinsky Angst, Freude, Trauer usw. zu den „gröberen Gefühlen“ rechnete, die er als Gegenstand seiner Kunst ausschloss, suchte er die „feineren Gefühle“ oder „Emotionen“ dagegen abzugrenzen, die sich seiner bemächtigten, ohne sie jedoch bezeichnen zu können, weshalb er sie „namenlos“ nannte. Für die feineren Emotionen oder Vibrationen gilt das Gleiche, und er kam nicht umhin einzugestehen, dass sie „mit unseren Worten nicht zu fassen sind.“94

So unbefriedigend die beschriebenen Differenzen der konstatierten psychischen Erregungszustände bleiben, so zeigt sich doch, dass Kandinsky den Betrachter durch seine Kunst befähigt sieht, bei der Rezeption seiner Werke denselben Weg, allerdings spiegelbildlich, zu beschreiten, den er als Künstler zuvor genommen hat. Dieser Vorgang lässt sich als Übertragungsverhältnis bezeichnen, indem das im Kunstwerk aufscheinende Gefühl gleichsam auf den Beschauer überspringt und zum Schlüssel der Betrachtung wird. Dass er dafür empfänglich sein muss, bildet ebenso wie die Tatsache, dass die Werke Kandinskys ihn bannen müssen, eine unabweisbare Voraussetzung. Die Hochbewertung des Gefühls, das der Künstler seinen Gemälden einzuhauchen wünschte und das idealiter auf den Betrachter übergeht, ohne die dabei wirksamen kognitiven Anteile zu berücksichtigen, erweist sich keineswegs als einzigartige Konstruktion, wie es zunächst scheinen könnte.

80) Kandinsky 1980, Werdegang, S. 53.

81) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 147.

82) Kandinsky 1912, S. 158.

83) Der Künstler arbeitet nicht, „um Lob oder Bewunderung zu verdienen oder Tadel und Haß zu vermeiden, sondern der kategorisch befehlenden Stimme gehorchend, die die Stimme des Herren ist, vor dem er sich zu beugen hat, und dessen Sklave er ist.“ Kandinsky 1980, Werdegang, S. 59.

84) Kandinsky 2007, Inhalt, S. 404.

85) Kandinsky 1952, S. 64.

86) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 158.

87) Kandinsky 1967, Formfrage, S. 159.

88) Kandinsky 1952, S. 64, 69.

89) Kandinsky 1952, S. 80.

90) Kandinsky 1952, S. 80.

91) Kandinsky 1952, S. 79. In seinen „Rückblicken“ bemerkte er: „Die Kunst ist in vielem der Religion ähnlich.“ Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 46.

92) Kandinsky 2007, ‚Neue‘ Kunst, S. 426

93) Kandinsky 2007, Inhalt, S. 404.

94) Kandinsky 1952, S. 23. Ringbom weist darauf hin, dass die Idee der Vibrationen der theosophischen Theorie entstammt. Vgl. Ringbom 1982, S. 89; auch Kandinsky 1952, S. 42 f.