„Komposition IV“ – „Schlacht“

„Komposition IV“, von Kandinsky im Februar 1911 gemalt und mit dem Zusatztitel „Schlacht“ versehen, stellt die Betrachter vor eine Herausforderung (Abb. 1). Das Bild konfrontiert sie mit einer zunächst irritierenden Gemengelage aus buntfarbigen Flecken und Flächen unterschiedlicher Größe, die teils ineinanderfließen, teils durch beigemengte Farben den Grundwert variieren oder auch als farbige Kraftfelder in Erscheinung treten, wie das gesättigte Blau im Zentrum des Gemäldes. Darüber legt sich ein Gerüst aus schwarzen Linien, die sowohl Teilflächen abgrenzen, als auch verschiedene Gegenstände aufscheinen lassen. Die Linien und die Farben, die Grundelemente der Malerei, erzeugen ein pulsierendes Bild, das zudem durch seine Größe besticht. Kandinsky hat seine Dimensionen auf die Maße von 159,5 cm in der Höhe und 250,5 cm in der Breite festgelegt. Das ausgeprägte Querformat der Leinwand erlaubte es dem Maler, eine bald panoramatische Landschaft darzustellen,8 die durch drei Berge ihre Grundstruktur erhielt. Links und rechts bilden dreieckig zugeschnittene, spitze Massive einen Kontrast zur gerundeten Bergkuppe im Bildzentrum, auf der ein Kastell thront, dessen geometrisch gebrochener Umriss den formalen Anschluss an die zackigen Bergmassive zu beiden Seiten sucht. Vor dem zentralen Massiv mit bekrönender Burg haben drei schemenhafte, in gebrochenem Weiß gewandete, teils bärtige Figuren mit roten Kappen Stellung bezogen, die einen Säbel und zwei Lanzen bei sich führen.9 Die überlangen Spieße durchmessen das Gemälde in der gesamten Höhe und teilen es in zwei Hälften: Während links eine Schlachtenszene dargestellt ist, finden wir auf der rechten Seite ein übergroß dargestelltes, eng umschlungenes Paar, das Kandinsky ungeachtet seiner Schrägstellung im Winkel von etwa dreißig Grad als „Liegende“ bezeichnet hat. Ihre diagonal geführten Körperkonturen, die von der unteren Bildmitte ausgehen, verklammern das mittlere und rechte Bergmassiv und lassen erkennen, dass Kandinsky keinen einheitlichen Maßstab für die Gestaltung seines Bildpersonals wählte. In Anbetracht des Befundes, dass das liegende Paar die Burgwächter um das Doppelte überragt, wird unmissverständlich klar, dass Kandinsky die mittelalterliche Bedeutungsperspektive reaktivierte. Sie stellt das Bedeutende groß, wenn nicht übergroß dar, das weniger Bedeutende dagegen kleiner, ohne sich um das Diskontinuierliche des Maßstabwechsels zu bekümmern, im Gegenteil: Dem Prominenten und Wichtigen im Bild soll die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil werden, auch wenn auf diesem Wege innerbildliche Spannungen auftreten, die es wiederum zugunsten des Bildganzen zu vermitteln gilt.

Um die Integration seines Gigantenpaares im Bild zu gewährleisten, führte Kandinsky die Körperumrisse beinahe parallel zur linken Kontur des rechten Bergmassivs, die zugleich als Standlinie für eine rätselhafte Konfiguration zweier Bildelemente dient. Während das linke, was den Umriss betrifft, am ehesten an eine Messerspitze denken lässt, wiederholt das rechte die Körperkonturen des liegenden Paares, was im Hinblick auf die Deutung des Gemäldes für größte Verwirrung sorgte. Denn man glaubte hier das Paar im Sinne einer Simultanszene gedoppelt zu sehen. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist jedoch völlig unklar, wie die vermeinte Simultanszene zu lesen wäre. Allerdings lässt sich aus formaler Sicht sagen, dass die rätselhaften Bildelemente über den transparenten Burgkörper hinweg ein Gegengewicht zu den beiden berittenen Kriegern bilden, die hoch über der linken Talsenke mit der tief stehenden Sonne und dem Regenbogen die Klingen kreuzen. Das Motiv der beiden Kavalleristen, die mit gebogenen Säbeln kämpfen, könnte der berühmten Anghiari-Schlacht von Leonardo da Vinci entlehnt sein, denn auch dort schlagen sich die kämpfenden Reiter, die das Geschehen nach oben hin abschließen, mit Krummschwertern.10 Was die innerbildlichen Relationen angeht, so machte der Maler auch hier wiederum von der Bedeutungsperspektive Gebrauch, diesmal allerdings maßvoller, um eine Balance zwischen den beiden Bildhälften zu erreichen.

An den Hängen der Berge haben sich lanzenbewehrte Verbände aufgestellt, die, vorläufig noch in geordneten Reihen, offenbar bereit sind, aufeinander loszustürmen. Das schwierige, abschüssige Gelände kann weder der Infanterie aus Pikenieren noch den Lanzenreitern gelegen kommen, zumal unterhalb des Regenbogens, der eine Brücke zwischen dem linken und dem mittleren Bergmassiv schlägt, ein weiterer Bergkamm sichtbar wird.11 Die Ausrüstung der Kampfverbände verlangt nach offenem, weitem Gelände, das den Einheiten Bewegungs- und Handlungsraum böte. Dessen ungeachtet erscheinen die parallel gebündelten Lanzen der einzelnen Truppenverbände wie Kraftlinien oder Vektoren mit verschiedenen Richtungsimpulsen. Das Geordnete der Lanzenschäfte tritt in Kontrast zu dem verhakten Lineament der beiden miteinander kämpfenden Kavalleristen, die jene Krummsäbel schwingen und damit das Spektrum der Bogen- und Hakenlinien bereichern. Von den Pferden hat Kandinsky neben dem Lineament der vier Vorderhände jeweils die Konturlinie des Kopfes, Nackens und Rückens gegeben, über denen die Reiter als schwebende Gebilde, lediglich als mehr oder minder gebogene Rückenlinien greifbar, auszumachen sind, deren leuchtend rote Kappen auf die Position der Köpfe verweisen, ohne dass Genaueres auszumachen wäre. Den Reitern helfen die längeren Staketen der Lanzen gleichsam auf, stoßen sie in die Höhe und bilden zudem eine geordnete Folie für den Wirbel der Bogenlinien.

Das beschriebene Lineament hat ausnahmslos gegenstandsbezeichnende Funktion, einem Kürzel gleich, das vom Betrachter verlangt, die erkannten Figurationen in der Vorstellungskraft zu vervollständigen. Die Linien geben lediglich einen Teil des Gegenstandes für das Ganze an. Darüber hinaus soll das Lineament als semiabstrakte Konfiguration in sich schlüssig erscheinen, d. h. sich als formales Gebilde durch optische Kohärenz und eindringliche Gestalt auszeichnen. Man sieht das an der sich verflüchtigenden Bogenlinie des rechten Pferdeleibes, die auf einen der Lanzenverbände in spitzem Winkel zuläuft. Den spitzen Winkel hat Kandinsky offenbar als störend empfunden und weitgehend getilgt. Nicht weniger heikel musste die entstandene Negativfigur des Bildgrundes aus Pferderücken und Burgumriss erscheinen, die der Maler durch drei kräftige schwarze Bogenstriche überspielte und sie in die Burg hineinlaufen ließ. Dieses Lineament ist nicht formbezeichnend, sondern frei, d. h. ohne Bindung an Gegenständliches erfunden. Ihm kommt die Aufgabe zu, die linearen Bildelemente mit ihrer unterschiedlichen Strichstärke in eine Balance zu bringen, sie zu verspannen und den dynamischen Impuls der Kavalleristen und Lanzenverbände über die eigentliche Kampfszene hinauszuführen und zu verankern. Dieselbe Bedeutung hat der grau-schwarze Strich am oberen Bildrand links, der gleichsam vom höher aufragenden Pferdekopf abspringt. Ähnliches kann von den offenen Winkeln bei den Köpfen des liegenden Paares auf der rechten Bildseite gesagt werden. Wenngleich die Vorstudien zu dem Gemälde erkennen lassen, dass sie Arme darstellen, die sich hier von den Körpern des Paares gelöst haben, scheint ihre Funktion neben der Gegenstandsbezeichnung vor allem darin zu bestehen, das Paar zu erden beziehungsweise an das Bergmassiv zu binden. Das zeigt die Strichführung des größeren Winkels in seiner Parallelausrichtung zur Bergkante unverkennbar, eine Lösung, die Kandinsky auch bei der Einbindung des Kastells verfolgte.

Man kann mit Fug und Recht sagen, dass das überwiegende Lineament des Gemäldes gegenstandsbezeichnend ist, einmal als Konturlinie für gegenständlich aufgefasste, erdschwere Gebilde wie die Berge oder die Burg, dann als Abbreviatur für die körperhaften Gegenstände, seien es die sich aufbäumenden Pferde oder die säbelschwingenden Reiter. Lediglich ein Objekt scheint aus der Rationalität der Darstellung auszuscheren: der im Verhältnis zum Umraum in gesättigten, teils leuchtenden Farben gefasste Felsbrocken, der, einem freischwebenden Kometen ähnlich, in die Kriegsszenerie einbricht. Er mag auf den ersten Blick durch den grüngrauen Strich konturiert wirken, ist jedoch vor allem aus kontrastierenden Farben des Rotspektrums hervorgebracht, und darin dem Regenbogen verwandt, den keine Konturlinie umreißt oder gliedert. Das gilt auch für die beiden Sonnen des Gemäldes, von denen die eine mit dunklem, grau-schwarzem Hof unterhalb des Regenbogens erscheint, während die zweite mit orange-rot-purpurnem Kranz in der oberen rechten Bildecke steht. Kandinsky lässt Gegenstände sowohl aus reinen Linien, wie im Falle der Pferde, als auch aus reinen Farben, wie die Himmelskörper, erstehen, und er nutzt auch die Möglichkeit, Gegenstände aus Linien und Farben zu gestalten wie die blaue Bergkuppe im Zentrum des Bildes. Während der Maler die Kuppe mit einem kräftigen Kobaltblau versah und ihr dadurch Gewicht verlieh, weist die bekrönende Burg keine Eigenfarbe auf, sondern zieht den buntfarbig gestalteten Himmel in ihr Inneres. Das Kastell erscheint wie ein Luftschloss. Die drei Wächter vor dem Burgberg, allein aus Farbe gestaltet, lösen sich mit zunehmender Bildtiefe auf, verlieren an körperlicher Prägnanz und verflüchtigen sich zu einem Farbnebel aus gebrochenem Weiß, Gelb, Blau und Grau mit Spuren von Grün und Rosé. Diese Auflösungstendenz findet wiederum an der Parabel des Bergumrisses ihre Grenze, denn andernfalls würde das Bild seine Lesbarkeit im Hinblick auf die Raumkonstellation einbüßen.

Es steht außer Frage, dass der Burgberg der vorderen Raumschicht angehört, das rechte Massiv als dahinterliegend wahrgenommen wird, während das eng umschlungene Paar dem Betrachter zum Greifen nahe erscheint. Gleichwohl stößt das Blau der Bergkuppe den Tiefenraum auf, weil ihm, wie schon Goethe erkannte, die Eigenschaft innewohnt, sich zurückzuziehen, was Kandinsky durch die Auseinandersetzung mit den Farbstudien des Dichters und seine eigenen Experimente freilich wusste. Blau galt ihm als die geistigste der Primärfarben mit zentripetalem Charakter.12 Blau, die Farbe des Himmels und der Ferne, hatte Leonardo da Vinci in seinem Malereitraktat für die entfernten Gegenstände der Landschaftsmalerei empfohlen und dargelegt, dass die Ausdehnung der Luftschichten zwischen betrachtendem Auge und betrachtetem Gegenstand den Dingen ihre Eigenfarbe nimmt und sie blau einfärbt. Gegen diese über Jahrhunderte in Geltung stehende Regel verstieß Kandinsky nicht nur fundamental, sondern er kehrte die Farb- beziehungsweise Luftperspektive der Renaissance regelrecht um, denn es ging ihm nicht, ebenso wenig wie den Fauves, um die Schilderung von Naturwahrheit, sondern um das gestaltete Bild einer inneren Schau.

Dem kräftigen, schwarz konturierten Blau des zentralen Massivs kommen innerhalb der Komposition überdies Ordnungsfunktionen zu: Zum einen wiederholt der Bergumriss die Form des Regenbogens und nähert die beiden Gebilde trotz differenter Qualität einander an. Das Flüchtige der Spektralfarben erscheint in derselben Form wie das Solide der Bergkuppe. Zum anderen schafft das Blau eine Kontrastfolie für das grünliche Gelb des rechten Bergmassivs, tritt als sein Gegenspieler auf, trägt auf diesem Wege zur Verräumlichung der gestaffelten, farbig großflächig behandelten Bergmassive bei und beruhigt überdies den flirrenden, teils buntscheckigen Farbauftrag, den man vor allem im Himmel, aber auch auf der Erde findet. Das ist nicht nur eine koloristische Gestaltungsweise, sondern insofern philosophisches Programm, als Kandinsky durch die Farbigkeit seiner Gemälde einen polyphonen Klang zu erzeugen suchte, der mit einer unverbrüchlichen Weltharmonie konvergiert, Irdisches und Kosmisches als Einheit begreift und die Durchgeistigung der Welt darzustellen vermag.13

Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Abb. 1
Komposition IV, 1911, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Wassily Kandinsky vor Komposition IV, Juni 1934, Fotografie, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 2
Wassily Kandinsky vor Komposition IV, Juni 1934, Fotografie, Centre Georges Pompidou, Paris

In seiner klingenden Landschaft, wo fließende Übergänge der Formen und Farben sich allenthalben finden, herrscht Krieg, weniger als unabänderliches Grauen der Welt, wie der Subtitel „Schlacht“ glauben macht, sondern als Ausdruck brennender Freiheitsliebe, wie an dieser Stelle bereits vorausgeschickt werden kann. Freiheit, verstanden als das Selbstbestimmungsrecht der Völker einschließlich des Rechts, die Freiheit unbedingt, zur Not auch kriegerisch zu verteidigen, rückt hier in den Fokus, was einschneidende Auswirkungen auf das Leben in einem Staat und die Existenz jedes Einzelnen hat. Zudem handelt „Komposition IV“ von der Liebe unter den Menschen, die Eigennutz und Selbstsucht überwindet und in Hingabe und Selbstlosigkeit aufgeht. Denn wie noch zu zeigen sein wird, dürfen wir die „Liegenden“ als Liebende verstehen, als namentlich benennbare Personen, die einander ganz hingegeben sind und sich dadurch harmonisch in das Weltganze einfügen. Kandinsky scheint hier an die schwebenden Liebespaare in der Malerei und Grafik des 19. Jahrhunderts anzuschließen, als deren berühmtestes Francesca und Paolo aus Dantes „Göttlicher Komödie“ gelten darf.14 „Komposition IV“ ist ein Schlüsselwerk Kandinskys, und hierin liegt wohl der tiefere Grund, warum der Künstler sich zeitlebens von dem Gemälde nicht trennen wollte (Abb. 2). Erst Nina Kandinsky, seine Frau und Witwe, hat es 1965 an die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf veräußert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Kandinsky hat sich in seinen flankierenden Bemerkungen jeder Inhaltsdeutung enthalten, wohl aber hob er in seinem Text „Komposition 4 – Nachträgliches Definieren“ auf die formalen und farblichen Qualitäten des Gemäldes ab. Unter der ersten Rubrik „Massen“ trennt er analytisch Farben und Linien und bemerkt zur „Farbe“: „unten Mitte – Blau (gibt dem Ganzen kalten Klang)“; „oben rechts – getrenntes Blau, Rot, Gelb“, was den vorherrschenden Farbakkord der rechten Bildpartie insgesamt beschreibt. Dann spricht er über die „Linien“: „oben links – schwarze Linien der Pferde im Knoten“; „unten rechts – langgezogene Linien der Liegenden“. Die zweite Rubrik widmet er den „Gegensätzen“: „der Masse zur Linie“; „des Präzisen zum Verschwommenen“; „des Linienknotens zum Farbenknoten und Hauptgegensatz: spitze, scharfe Bewegung (Schlacht) zu hell-kalt-süßen Farben.“ Diesen Gedanken greift er nochmals unter der Rubrik „Zwei Zentren“ auf: „Die ganze Komposition ist sehr hell gemeint mit vielen süßen Farben, die oft ineinander fließen (Auflösungen), auch das Gelb ist kalt. Dieses Hell-Süß-Kalte zum Spitz-Bewegten (Krieg) ist der Hauptgegensatz im Bilde. Hier ist, scheint mir, dieser Gegensatz (im Vergleich mit Komposition 2) noch stärker, aber dafür auch härter (innerlich), deutlicher, was als Vorteil das präzisere Wirken hat und als Nachteil eine zu große Deutlichkeit dieser Präzisität.“15

Es wird nicht klar, was Kandinsky mit der Wortschöpfung des Farbenknotens meint. Zuerst stellt sich der Gedanke ein, dass der Künstler die Wendung in Analogie zu der des Linienknotens erfand. Blickt man mit Abstand auf das Bild, so wird einmal mehr deutlich, dass auf der linken Seite Linien dominieren, während sich auf der rechten Seite das Spiel der Farben umso reicher entfaltet. Von Verknotungen der Farben kann schwerlich die Rede sein, wohl aber von fließenden Modellierungen und Facettierungen. Man muss beispielsweise nur die Farbe Grün im Bild aufsuchen und bald schon wird deutlich, dass Kandinsky sie bei der rätselhaften Figuration oberhalb des rechten Bergmassivs pastos, in facettiertem Modus aufgetragen hat, über der Burg das Gelb, Blau, Orangerot, den Ocker und das gebrochene Weiß umspielen lässt und beim linken Bergmassiv, dessen Oberfläche allein aus ineinander gemischten Farben entsteht, neben der gesättigten Partie am Rand mit Weiß, Gelb, Blau, Grau und Rosé verstrichen hat. Grün tritt an drei Stellen des Gemäldes prägnant auf und lässt die auf Harmonie bedachte Verteilung der Farben erkennen.

Was das Inhaltliche angeht, so bleibt völlig offen, welcher Sinn der rechten Bildhälfte zukommt, da Kandinsky lediglich über die Tonalität (hell), den Geschmack (süß) und die Temperatur (kalt) der Farben sprach. Das ist kein aufgeblähtes Wortspiel, sondern zeigt vielmehr, welchen Rang er der Farbe zudachte. Sie vermag in seinem Verständnis weit mehr, als nur den Sehsinn anzureizen: „Farbe wirkt durch das Auge auf die sämtl. Sinne: auf das Ohr (sie klingt), auf den Geschmack (sie schmeckt), auf das Gefühl (dies Blau ist weich, wie Samt), und Geruch (manche Farben duften – duftige Malerei; hell blaugrün riecht wie frische Luft).“16 Wie aus den erst vor einigen Jahren publizierten Notizen hervorgeht, verfolgte Kandinsky ganz offensichtlich das umstrittene Konzept der Synästhesie, der Miterregung eines Sinnesorgans bei Reizung eines anderen, ein Phänomen, über das der Maler zu Lebzeiten nicht öffentlich sprach, es aber für seine Werke reklamierte, was wiederum auf seine Idee der Musik als Schwesterkunst der Malerei verweist.17

Schließlich erhebt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden höchst differenten Seiten des Gemäldes zueinander stehen. Die Schlachtenszene ist eindeutig und immer schon als solche gesehen worden, aber das Gigantenpaar der Liegenden gibt ein großes Rätsel auf und hat zu kühnen Spekulationen verführt.18 Die kunsthistorische Forschung ist bisher an der Auflösung des Hauptgegensatzes auch deshalb gescheitert, weil Kandinsky mit seinen nachträglichen Definitionen inhaltliche Belange (Schlacht/Krieg) gegen koloristische Aspekte (hell-kalt-süße Farben) ausspielte, was die dichotome Bildstruktur vertiefen musste, und zwar umso mehr, als er in seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“ konstatierte: „Gegensätze und Widersprüche – das ist unsere Harmonie.“19 Kandinskys Beredsamkeit scheint mit jeder weiteren Erläuterung den gordischen Knoten des Gemäldes nur noch fester zu zurren.

8) Der Komponist Arnold Schönberg, zu dem Kandinsky am 18. Januar 1911 erstmals Kontakt aufnahm, thematisierte sein Unbehagen angesichts der großformatigen Werke des Malers in einem Brief vom 14. Dezember 1911: „Mit etwas kann ich mich nicht recht anfreunden: mit dem Format, mit der Größe. … Da es sich nur um Proportionen handelt, … so kann es unmöglich aufs Format ankommen. … Ich spüre diese Farbengewichte weniger, weil sie mir zu sehr aus dem Gesichtsfeld entweichen. (Einzelne entschlüpfen mir ganz.) Ich müßte mich weit wegstellen, und dann ist ja das Bild kleiner …. … Vielleicht habe ich deswegen von den ganz großen Bildern weniger Eindruck, weil ich sie nicht geschlossen aufnehmen konnte.“ Kandinsky ging darauf in einem Brief vom 13. Januar 1912 ein: „… ich bezwecke gerade (manchmal) durch die Dimension das augenblickliche Übersehen der Bilder zu verhindern.“ Und: „… ( ) die Dimension (ist) eine Kraft, ein Mittel“. Schönberg/Kandinsky 1983, S. 53, 57.

9) Das Motiv dreier bewaffneter Männer ist auch in dem Farbholzschnitt mit dem Titel „Verfolgung“ von 1907 greifbar. Kandinsky hat hier die mit Schwertern gerüsteten Männer in strenger Reihung an den Rand des Geschehens versetzt. Siehe Roethel 1970, S. 128 f., Nr. 64; Friedel/Hoberg 2008, S. 151, 273, Nr. 60. 1.

10) Leonardos Karton der Anghiari-Schlacht ist verloren, aber im Kern durch eine Kopie von Peter Paul Rubens überliefert. Den Hinweis auf Leonardo verdanke ich Werner Busch, Berlin.

11) Dass die Thematik der Lanzenreiter im Spektrum des Denkbaren liegt, kann das Gemälde „Araber II“ von 1911 erweisen. Vgl. Roethel/Benjamin 1982, Bd. 1, S. 360, 362, Nr. 379.

12) Kandinsky 1952, S. 88 f.

13) „Die Welt klingt. Sie ist ein Kosmos der geistig wirkenden Wesen.“ Kandinsky 1967, Formfrage, S. 168. Und: „Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das Werk heißt. Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung.“ Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 41.

14) Siehe Ewals 1996, S. 182 ff; Forberg/Metken 1975, Bd. 2, S. 1445. Den Hinweis verdanke ich Werner Busch, Berlin.

15) Kandinsky im März 1911, zit. n. Thürlemann 1986, S. 219 f.

16) Kandinsky sprach den Gedanken in seinem Manuskript „Definieren der Farben“ aus, das Helmut Friedel auf das Jahr 1904 datierte. Kandinsky 2007, Farben, S. 251. Vgl. Gottdang 2004, S. 371 ff.

17) Besonders deutlich wird das bei dem Werk „Der gelbe Klang. Eine Bühnenkomposition“ (1912). Zum 5. Bild schrieb Kandinsky: „Im Orchester fangen einzelne Farben an zu sprechen. … Dann hört man im Orchester wieder einzelne Farben.“ Kandinsky 1967, Klang, S. 227. Kandinskys Aussagen berühren sich aufs Engste mit den Arbeiten von Alexander Skrjabin, der 1909/10 ein Orchesterwerk mit dem Titel „Prométhée. Le Poème du feu“ schuf, das einen Part für ein Farbenklavier vorsah. Es kam am 2. bzw. 15. März 1911 in Moskau zur Uraufführung, allerdings ohne das vorgeschriebene Farbenklavier. Vgl. Schibli 1983, S. 227 ff.

18) Gemeinhin wird in der Forschung davon ausgegangen, dass das Menschenpaar in Verbindung mit der rätselhaften Figuration auf der rechten Bildseite das Thema der Auferstehung repräsentiere. Nishida schlug dagegen vor, dass die Reiter den Konflikt zwischen der West- und Ostkirche symbolisieren, das Kastell die künftige universelle Kirche, die drei Gestalten am Fuß des blauen Berges die Erzengel Gabriel, Michael und Raphael und das umschlungene Paar Adam und Eva. Nishida 1978, S. 5. Washton Long dachte, dass die Figuration oberhalb des liegenden Paares „saints“, Heilige, darstelle. Washton Long 1980, S. 113. Thürlemann schrieb: „Während die beiden unteren Konfigurationen noch als ‚Körper‘ mit ‚menschlichen Köpfen‘ gelesen werden können, ist eine solche Identifikation für die obere Doppelkonfiguration nicht mehr möglich. … Dem Begriff der ‚Auferstehung‘ scheinen die Sinneffekte unserer syntagmatischen Lektüre … im wesentlichen zu entsprechen.“ Thürlemann 1986, S. 112. Dämmer vermerkte: „Näher und eindeutiger als in ‚Komposition II‘ ist der Bezug des Paares hier zu den blockhaften Gestalten, die von der Mitte aus über den Kamm des gelben Berges aufsteigen.“ Und weiter unten: „Die blockhaften Gestalten, in denen eine Weiterentwicklung des Paares zu vermuten ist, entfallen [im Holzschnitt].“ Dämmer 1991, S. 118, 127. Dabrowski konstatierte dagegen: „… the standing and reclining figures – the symbols of the forthcoming spiritual epoch.“ Dabrowski 1995, S. 34. Besch favorisierte wiederum das Thema der Auferstehung: „… die beiden ‚Liegenden‘ oder ‚Auferstehenden‘ unten rechts …“. Besch 2004, S. 65. Die drei Kosaken, die das Kastell bewachen, könnten nach dem Dafürhalten Beschs die drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob darstellen. Ebda., S. 69. Gaßner/Kersten sehen in dem Bild den theosophischen Übungsleitfaden „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“, 1909, von Rudolf Steiner visualisiert. Ihr Ansatz ist singulär und ohne Nachfolge geblieben. Vgl. Gaßner/Kersten 1991, S. 267 ff.

19) Kandinsky 1952, S. 109.