Volkskunst - Weltkunst

Kandinsky liebte ebenso wie Tolstoi die Volkskunst, dieser mehr wegen ihrer religiösen Themen, jener mehr wegen ihrer ursprünglichen Vitalität und buntfarbigen Opulenz.123 Seine erste Begegnung mit volkstümlichen Erzeugnissen, die ihn geradezu überwältigten, reichte in das Jahr 1889 zurück, als Kandinsky im Auftrag der Kaiserlichen Gesellschaft für Naturwissenschaften, Anthropologie und Ethnographie in das Gouvernement Wologda reiste, wo er, der ausgebildete Jurist und Ökonom, das russische Bauernrecht studieren und die heidnischen Relikte in der religiösen Praxis der vom Aussterben bedrohten Syrienen dokumentieren sollte. Die bildhaften Eindrücke, die er während seiner Reise sammelte, schoben sich später aus der Erinnerung wirkmächtig ins Bewusstsein, denn in seinen „Rückblicken“ berichtete er gerade von den künstlerischen Phänomenen russischer Volkskunst: „Die großen, mit Schnitzereien bedeckten Holzhäuser werde ich nie vergessen. In diesen Wunderhäusern habe ich eine Sache erlebt, die sich seitdem nicht wiederholt hat. Sie lehrten mich, im Bilde mich zu bewegen, im Bilde zu leben. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in die Stube trat und vor dem unerwarteten Bilde an der Stelle stehen blieb. Der Tisch, die Bänke, der im russischen Bauernhause wichtige große Ofen, die Schränke und jeder Gegenstand waren mit bunten, großzügigen Ornamenten bemalt. Auf den Wänden Volksbilder: ein Held in symbolischer Darstellung, eine Schlacht, ein gemaltes Volkslied. Die ‚rote‘ Ecke (‚rot‘ ist altrussisch gleich ‚schön‘) dicht und ganz mit gemalten und gedruckten Heiligenbildern bedeckt, davor eine kleine rotbrennende Hängelampe, die wie ein wissender, diskret-leise sprechender, bescheidener für und in sich lebender und stolzer Stern glühte und blühte. Als ich endlich ins Zimmer trat, fühlte ich mich von allen Seiten umgeben von der Malerei, in die ich also hineingegangen war.“124

Und weiter heißt es da: „Ich habe viel skizziert – diese Tische und verschiedene Ornamente. Sie waren nie kleinlich und so stark gemalt, daß der Gegenstand sich in ihnen auflöste. Auch dieser Eindruck kam mir erst viel später zum Bewußtsein. Wahrscheinlich nicht anders als durch diese Eindrücke verkörperten sich in mir die weiteren Wünsche, Ziele meiner eigenen Kunst. Ich habe viele Jahre die Möglichkeit gesucht, den Beschauer im Bilde ‚spazieren‘ zu lassen, ihn zu der selbstvergessenen Auflösung im Bilde zu zwingen. Manchmal gelang es mir auch: ich habe es den Beschauern angesehen. Aus der unbewußt beabsichtigten Wirkung der Malerei auf den bemalten Gegenstand, der sich durch die Bemalung auflösen kann, bildete sich meine Fähigkeit, den Gegenstand auch im Bilde zu übersehen, weiter aus. … Eine erschreckende Tiefe, eine verantwortungsvolle Fülle von allerhand Fragen stellten sich vor mich. Und die wichtigste: was soll den fehlenden Gegenstand ersetzen? Die Gefahr einer Ornamentik stand klar vor mir, die tote Scheinexistenz der stilisierten Formen konnte mich nur abschrecken.“125

Kandinsky spricht hier verschiedene Aspekte an, die von Bedeutung sind. Zum einen faszinierte ihn der Gedanke, den Betrachter durch die Malerei so gefangen zu nehmen, dass er das Gefühl entwickelte, in der Malerei zu stehen, in sie einzutauchen, in ihr zu leben. Diese Idee teilte er mit den italienischen Futuristen, die in ihrem Technischen Manifest der futuristischen Malerei von 1910 konstatierten: „Der Aufbau der Bilder ist töricht konventionell: Die Maler haben uns immer Dinge und Personen gezeigt, die vor uns aufgestellt sind. Wir setzen den Beschauer mitten ins Bild.“126 Im Vorwort des Katalogs ihrer Ausstellung, die in verschiedenen europäischen Städten gezeigt wurde, beschrieben die Künstler, wie sie ihre Absicht glaubten realisieren zu können: „Um den Betrachter in die Mitte des Bildes setzen zu können, wie wir es in unserem Manifest ausgedrückt haben, muß das Bild eine Synthese von Erinnerung und optischer Wahrnehmung sein.“127 Diesem Konzept, das die Erinnerung neben der Wahrnehmung in den Fokus rückt, hätte Kandinsky sicherlich eine Abfuhr erteilt, weil Erinnerungen sowohl emotionale als auch kognitive Dimensionen einschließen, von denen Kandinsky nur die emotionalen im Wahrnehmungsvorgang eines Kunstwerks akzeptieren wollte. Dem Ansinnen der Futuristen musste er daher mit Distanz begegnen und stellte dem Tafelbild mittleren Formats, das die italienischen Maler favorisierten, gerade mit seinen „Kompositionen“ Großformate entgegen, über die Arnold Schönberg bemerkt hatte, dass man sie als Ganzes nie überblicken könne. Bei seiner Entgegnung wies Kandinsky darauf hin, dass das große, nicht überschaubare Format eines Bildes seiner Intention entspreche und überdies eine Kraft darstelle.128 Die großformatigen „Kompositionen“ begünstigen in der Tat, dass das Bild durchwandert werden kann, ohne sich seiner Begrenzungen bewusst zu werden. Verfolgt man die optischen Leitlinien seiner „Kompositionen“ und durchstreift die bildlichen Zentren, so stellt sich ein Effekt ein, den Kandinsky offenbar zu evozieren suchte: den Eindruck, dass man nicht vor dem Bild steht, sondern in das Gemälde eintritt. Dergestalt suchte er den Beschauer „zu der selbstvergessenen Auflösung im Bilde zu zwingen.“ Nimmt man den artikulierten Gedanken beim Wort, so heißt das in letzter Konsequenz, dass Kandinsky das Distanzverhältnis zwischen betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt auszuhebeln wünschte, das Ich- und Alltagsbewusstsein des Betrachters zugunsten der Seherfahrung des Bildes zurückzudrängen suchte, mit dem Ziel, den Beschauer für bisher unbekannte Erfahrungen geistiger Art zu öffnen.

Der andere Aspekt von Belang, den Kandinsky in seinen „Rückblicken“ thematisiert, betrifft das überbordende Ornament der russischen Bauernhäuser, das sich über Wände und Möbel gleichermaßen ausbreitete. Der Allover-Effekt des Ornaments konnte, wie er beobachtete, Gegenstände in den Hintergrund treten lassen, wenn nicht sogar zum Verschwinden bringen, was Kandinsky, der dem Bild das Gegenständliche austreiben wollte, faszinieren musste. Zugleich aber wurde ihm bewusst, dass das Ornament ihm keinen gangbaren Weg zur abstrakten Bildgestaltung wies, denn schöne Form ohne Inhalt konnte nicht im Interesse des Malers liegen. So sehr ihn das Lebendige und Kraftvolle der Bauernornamente in den Bann zog, so sehr sah er sich genötigt, „die tote Scheinexistenz der stilisierten Formen“ zu meiden, weil ihre Art zu sprechen nicht das zum Ausdruck bringen konnte, was vor seinem geistigen Auge stand. Das Ornament, verstanden als repetitive, sich selbst genügende Schmuckform, entzog sich der Möglichkeit inhaltlicher Aufladung. Lediglich in ihrem Murnauer Haus gestatteten sich Gabriele Münter und Kandinsky, Truhen, Schränke, Türen und Treppen ornamental zu dekorieren, im Ornament regelrecht zu schwelgen, ähnlich wie der Maler es in den russischen Bauernhäusern gesehen hatte.

Die Liebe zur Volkskunst spielte auch eine entscheidende Rolle, als Kandinsky dem Freund Franz Marc den Vorschlag unterbreitete, einen Almanach herauszugeben, der die jüngste Kunstentwicklung reflektieren und ausschließlich Künstlern als Mitteilungsorgan vorbehalten sein sollte. Das Programm der geplanten Publikation erschöpfte sich darin allerdings nicht, denn Kandinsky hatte zudem im Sinn, alle Gattungen der bildenden Kunst und alle Völker zu repräsentieren. Damit riss er die Mauern zwischen Europa und den anderen Kontinenten ebenso nieder wie die Distinktionsgrenzen, die die Hierarchisierung der Gattungen herbeigeführt hatten. Ihm schwebte ein Konzept vor, das Hochkunst und Volkskunst auf eine Stufe stellte, freie und angewandte Kunst vereinte, europäischer und außereuropäischer Kunst denselben Daseinsgrund und dasselbe Recht einräumte. Kandinsky redete, als er Franz Marc am 19. Juni 1911 in dieser Angelegenheit schrieb, einem Almanach der Weltkunst das Wort: „Nun! ich habe einen neuen Plan. Piper muß Verlag besorgen und wir beide [werden] die Redakteure sein. Eine Art Almanach (Jahres=) mit Reproduktionen und Artikeln nur von Künstlern stammend. In dem Buch muß sich das ganze Jahr spiegeln, und eine Kette zur Vergangenheit und ein Strahl in die Zukunft müßen diesem Spiegel das volle Leben geben. … Da bringen wir einen Ägypter neben einem kleinen Zeh, einen Chinesen neben Rousseau, ein Volksblatt neben Picasso u. drgl. noch viel mehr! Allmählich kriegen wir Litteraten und Musiker. Das Buch kann ‚Die Kette‘ heißen oder auch anders.“ 129 Kandinsky und Marc einigten sich schließlich darauf, den Almanach „Der Blaue Reiter“ zu nennen, der jedoch nicht fortlaufend, sondern nur einmalig im Jahre 1912 erschien.

Über Picasso, mit einem Werk des analytischen Kubismus vertreten, bemerkte Kandinsky in seinem Traktat, dass er der große Erneuerer der Form sei, während Henri Matisse, dessen „Tanz“ und „Musik“ von 1910 die Redakteure in den Almanach aufnahmen, ihm als großer Erneuerer der Farbe galt.130 Die beiden für den russischen Sammler Sergei Iwanowitsch Schtschukin geschaffenen Gemälde standen neben den Werken von Henri Le Fauconnier, Robert Delaunay und Henri Rousseau nicht nur für die jüngste französische Malerei ein, sondern repräsentierten den Geist der grundlegenden Erneuerung der Künste, zu deren Initiatoren Kandinsky sich selbst rechnete, wie die farbige Strichätzung des Entwurfs zu „Komposition IV“ und eine Abbildung von „Komposition V“ belegen. Franz Marc gab der Edition ein koloriertes Tierbild bei, dessen nichtmimetische Farbigkeit signalisierte, dass die künstlerischen Errungenschaften eines Matisse keineswegs einen Einzelfall der französischen Kunstgeschichte darstellen, sondern ein viel breiter wahrnehmbares Phänomen, das die „Brücke“-Expressionisten gleichermaßen auszeichnet. Von ihnen steuerte Erich Heckel eine „Zirkusszene“, Max Pechstein und Otto Müller „Badende“ bei, während Ernst Ludwig Kirchner mit seiner Grafik „Vier Tänzerinnen“ hervortrat.

Die fulminante Bandbreite der beteiligten Gegenwartskünstler zeigt, wie sehr Kandinsky mit dem Almanach einem Bedürfnis entgegenkam, endlich mit den Grenzziehungen zwischen den Ländern, Kontinenten und Gattungen zu brechen, um die Vielfalt der künstlerischen Erscheinungen in ihren jeweiligen Ausdrucksqualitäten zu würdigen. Umso vergnügter nahmen die Herausgeber Kinderzeichnungen, russische Volksblätter, Webereien aus Alaska, bayerische Heiligenbilder auf Glas, Skulpturen aus Afrika, Südborneo, Malaysia, Neukaledonien und Mexiko, japanische Tuschzeichnungen, niedersächsische Seidenstickereien des Mittelalters, Tanzmasken aus Ceylon zur Austreibung von Krankheiten, nordeuropäische Votivbilder, ägyptische Schattenspielfiguren, altdeutsche Holzschnitte, chinesische Malereien und Notenblätter diverser Komponisten in den Almanach auf. Kandinsky erweist sich nicht nur als einer der großen Neuerer, der der abstrakten Malerei zum Durchbruch verhalf, sondern überdies als ein Vordenker, der mit dem Eurozentrismus auf dem Gebiet der bildenden Künste einhundert Jahre vor den kulturellen Institutionen kategorisch brach. Er ging noch einen Schritt weiter, wenn er gegenüber dem Freund den Gedanken äußerte, dass mit dem Almanach „eine Kette zur Vergangenheit [reichen] und ein Strahl in die Zukunft“ weisen müssen, in deren Mitte sich die Maler selbst erkannten. Der Wunsch Kandinskys, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Almanach zu spiegeln, berührt sich auf das Engste mit dem, was Tolstoi als Quintessenz seiner Ausführungen in „Was ist Kunst?“ festhielt: „Die Kunst ist eines der zwei Organe, die dem Fortschritt der Menschheit dienen. Durch das Wort vereinigt sich der Mensch im Gedanken, durch die Bilder der Kunst vereinigt er sich im Gefühl mit allen Menschen nicht nur in der Gegenwart, sondern der Vergangenheit und der Zukunft.“131

Franz Marc übernahm es im Januar 1912, den Text für den Subskriptionsprospekt des Almanachs zu verfassen, und betonte wie Kandinsky das geheime Band, durch das sich die Maler mit den im Almanach vergegenwärtigten Künstlern und Künsten verbunden sahen: „Wir wissen, daß die Grundideen von dem, was heute gefühlt und geschaffen wird, schon vor uns bestanden haben, und weisen mit Betonung darauf hin, daß sie in ihrem Wesen nicht neu sind; aber die Tatsache, daß neue Formen heute an allen Enden Europas hervorsprießen wie eine schöne, ungeahnte Saat, das muß verkündet werden und auf all die Stellen muß hingewiesen werden, wo Neues entsteht. … Das hiermit angekündigte erste Buch, dem andere in zwangloser Reihe folgen sollen, umfaßt die neueste malerische Bewegung in Frankreich, Deutschland und Rußland und zeigt ihre feinen Verbindungsfäden mit der Gotik und den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient, mit der so ausdrucksstarken ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst, besonders mit der modernsten musikalischen Bewegung in Europa und den neuen Bühnenideen unserer Zeit.“132 Allem Anschein nach teilte Franz Marc die Auffassung Kandinskys, dass neben den individuellen und epochalen Bindungen eines Kunstwerks ein überindividuelles und überzeitliches Element existiert, das Kandinsky das „Element des Rein- und Ewig-Künstlerischen“ genannt hatte, „welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten geht, im Kunstwerke jedes Künstlers, jeder Nation und jeder Epoche zu sehen ist und als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit kennt.“133 Während Kandinsky das Bild einer Kette beziehungsweise eines Strahls heraufbeschwor, durch die sich die Gegenwärtigen mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden fühlten, wählte Franz Marc die Metapher der Verbindungsfäden, die sie in ein feingesponnenes Netz künstlerischer Beziehungen integrierten. Die Urheber des Almanachs verstanden sich, und darin zeigt sich ihre Unvoreingenommenheit, ihr Weitblick und ihre Größe, als Teil eines weltumspannenden Kontinuums der Kunst, das keine Ausschlusskriterien kennt und die Geltung keiner Form, keiner Gattung, keiner Künstlerin und keines Künstlers bestreitet.

123) Tolstoj 1911, S. 108 ff.

124) Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 37.

125) Kandinsky 1980, Rückblicke, S. 38.

126) Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla, Gino Serverini, Die Futuristische Malerei – Technisches Manifest, 11. April 1910, in: Apollonio 1972, S. 41.

127) Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla, Gino Serverini, Vorwort zum Katalog der Ausstellungen in Paris, London, Berlin, Brüssel, München, Hamburg, Wien usw., Februar 1912, in: Apollonio 1972, S. 62.

128) Vgl. Anm. 8.

129) Kandinsky/Marc 1983, S. 40 f.

130) Kandinsky 1952, S. 51 f.

131) Tolstoj 1911, S. 255.

132) Kandinsky/Marc 1967, S. 316.

133) Kandinsky 1952, S. 80.