„Komposition IV“ – Nachklänge

Holzschnitt für das Cover der Edition Salon Isdebsky, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris
Abb. 15
Holzschnitt für das Cover der Edition Salon Isdebsky, 1911, Centre Georges Pompidou, Paris

Zur Berühmtheit von „Komposition IV“ hat sicherlich beigetragen, dass Kandinsky sein Werk bei verschiedener Gelegenheit im Medium der Grafik spiegelte, zuerst in einem Holzschnitt, dann in einer kolorierten Strichätzung und schließlich in Form zweier Tuschzeichnungen. Der Holzschnitt verdankt sich der Aktivität des Künstlers und Verlegers Vladimir Isdebsky, der im Frühjahr 1911 den „Zweiten Internationalen Salon Isdebsky“ in Odessa organisierte und dort neben Werken von David Burljuk, Natalia Gontscharowa, Alexej von Jawlensky, Michail Larionow und Gabriele Münter zweiundfünfzig Arbeiten von Kandinsky ausstellte. Im Anschluss an die Werkschau des Salons, die von Februar bis März 1911 währte, plante er, eine Monografie über Kandinsky herauszugeben, die jedoch nie zustande kam. Der Künstler hatte es übernommen, für die Publikation das Cover zu entwerfen, weshalb er einen Holzschnitt fertigte (Abb. 15), dessen Druckstock die Dimensionen 28,2 x 27,9 cm aufweist und sich heute in den Sammlungen des Centre Georges Pompidou befindet.64 Den Ausgangspunkt seiner Bildgestaltung bildete „Komposition IV“, die Kandinsky jedoch stark reduzierte und vereinfachte, was sich zum Teil durch die Technik des Holzschnitts erklären lässt. Bei der Gestaltung der Grafik hatte der Künstler überdies den Anforderungen eines Bucheinbandes zu genügen, weshalb er seinen Namenszug ins obere Drittel des Blatts in kyrillischen Lettern setzte, deren schildartige Umrandung die kämpfenden Kavalleristen auf der linken Bildseite und die Sonne in der rechten Bildecke tangiert. Unterhalb des Namensfeldes treten die drei Berge der Landschaft hervor, von denen der mittlere und linke schwarz gegeben sind, während sich rechts das liegende Paar vor einem weitgehend weiß gehaltenen Massiv abzeichnet. Auch der Regenbogen ist mit drei kräftigen Bogenlinien ins Bild geholt. Insofern lässt sich sagen, dass Kandinsky die grundlegende Bildordnung wahrte, allerdings einen einzelnen Lanzenverband jeweils links und rechts außen darstellte, was sein bisheriges Bildkonzept, nämlich die klare Scheidung in eine Kriegs- und eine Friedensszene, unterminiert. Oberhalb des liegenden Paares ergibt der Lanzenverband keinen rechten Sinn, zumal an dieser Stelle keine Lücke entstanden wäre, wenn er darauf verzichtet hätte. Hier triumphiert offenbar die Eigendynamik formaler Gestaltung über die inhaltlichen Belange, was in Anbetracht des intensiven Entwurfsprozesses zur Fixierung der endgültigen Bildidee überraschend, wenn nicht irrational erscheint. Vermutlich hätte Kandinsky dem nicht widersprochen, sondern vielmehr darauf verwiesen, dass das Gefühl vor allen anderen Erwägungen den Ausschlag gegeben habe. Zuletzt brachte er unterhalb des eigentlichen Bildfeldes eine Schriftleiste an, die er wiederum mit kyrillischen Lettern füllte, und sie besagt: „Izdanie Salona Izdebskago 1911“, was im Deutschen mit „Edition Salon Isdebsky 1911“ wiederzugeben wäre. Die fast quadratischen Abmessungen des Holzschnittes machen im Vergleich mit den vorbereitenden Zeichnungen deutlich, dass Kandinsky die Bildelemente des Holzschnitts in der Höhe auseinanderzog, um seinen Namen an prominenter Stelle ins Blickfeld rücken zu können.

„Entwurf zu Komposition Nr. 4“, farbige Strichätzung, 1911/12, in: Almanach Der Blaue Reiter
Abb. 16
„Entwurf zu Komposition Nr. 4“, farbige Strichätzung, 1911/12, in: Almanach Der Blaue Reiter

Für den Almanach „Der Blaue Reiter“, der im Mai 1912 bei Piper in München erschien, schuf Kandinsky eine Strichätzung nach „Komposition IV“ (Abb. 16), die er, wie das Verzeichnis der Bildreproduktionen ausweist, „handkolorierte“. Der Hinweis hat jedoch nur für die Luxusedition dieses Künstlerbuchs Gültigkeit. Da der Verleger für die erste Auflage mit mehr als eintausendzweihundert Exemplaren rechnete, ließ er die allgemeine Ausgabe in einem maschinellen Verfahren drucken.65 Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass Kandinsky, wie ein Studienblatt in München dokumentiert, mit Schablonen experimentierte, um die Farbe der Grafiken für die Luxusedition zügiger auftragen zu können.66 Die Farbigkeit des gedruckten Almanach-Blattes reicht von homogen deckendem hellen Grau, Beige, Grün, Blau und Violett über Mittelblau, Mittelrot und Graugrün bis hin zu einem kräftigen Ocker, Kobaltblau und Karminrot, die sich teils überlagern und das Spektrum der Farben noch erweitern. Auf dem Schutzblatt der Grafik ließ der Künstler vermerken, dass es sich um einen „Entwurf zu Komposition Nr.4 von Kandinsky“ handelt. Tatsächlich hielt er sich bei der Gestaltung des Blatts fast exakt an die Maßgaben der finalen Entwurfszeichnung, die er in acht gleiche Felder gegliedert hatte, um die Komposition auf die Leinwand zu übertragen. Die Dimensionen der farbigen Strichätzung passte er dem Format des Buchblocks an und legte sie auf 14,0 x 21,0 cm fest, was einem Maßverhältnis von zwei zu drei entspricht. Die Bildgegenstände der Strichätzung könnten, verglichen mit dem zuvor entstandenen Holzschnitt, kaum vollständiger erscheinen. Im Falle der dem Almanach zugedachten Grafik stand der Künstler hauptsächlich vor der Herausforderung, die vielfarbigen Nuancen des Gemäldes in monochrome Flächenwerte zu übersetzen und sie gleichzeitig so zu minimieren, dass die Grafik dennoch ein eigenes Leben entfaltete.

„Linienaufbau der ‚Komposition 4‘ – vertikal-diagonaler Aufstieg“, Tuschzeichnung, in: Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 1926
Abb. 17
„Linienaufbau der ‚Komposition 4‘ – vertikal-diagonaler Aufstieg“, Tuschzeichnung, in: Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 1926
„Zeichnerischer Aufbau eines Teils der ‚Komposition 4‘ (1911)“, Tuschzeichnung, in: Wassliy Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 1926
Abb. 18
„Zeichnerischer Aufbau eines Teils der ‚Komposition 4‘ (1911)“, Tuschzeichnung, in: Wassliy Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche, 1926

Seinem Bauhausbuch mit dem Titel „Punkt und Linie zu Fläche“, das Walter Gropius und László Moholy-Nagy als Schriftleiter der Reihe 1926 edierten, gab Kandinsky zwei Tuschzeichnungen für den Anhang bei, die den Entwurfsprozess von „Komposition IV“ reflektieren. Das Beispiel lässt erkennen, welchen Rang er dem Werk selbst im Abstand von fünfzehn Jahren beimaß, zumal Kandinsky seinen Stil zugunsten einer forcierten Bildgeometrie weiterentwickelt hatte, der sich deutlich von der Werkphase der sogenannten „Geniezeit“ unterscheidet, jenen Jahren von 1910 bis 1914, als Kandinsky sich langsam, aber entschieden auf den Weg zur völligen Abstraktion begab. Zum einen wiederholte er die allererste Entwurfszeichnung zu „Komposition IV“ (Abb. 17), die das zuerst entstandene Gemälde „Kosaken“ grafisch verknappte und das liegende Paar einführte, ohne dass Kandinsky zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, wie er es in den Gesamtzusammenhang einbetten würde. Er kommentierte die gedruckte Tuschzeichnung unter dem Aspekt des Linienaufbaus, indem er seine Leser auf den „vertikal-diagonalen Aufstieg“ der Komposition aufmerksam machte.67 Darüber hinaus fügte er ein Blatt bei (Abb. 18), welches das liegende Paar in Verbindung mit der „rätselhaften Figuration“ zum Gegenstand hat.68 Das liegende Paar hat Kandinsky diesmal in eine Steillage gebracht, die einem Winkel von fünfundvierzig Grad entsprechen dürfte, und die „rätselhafte Figuration“ mit knappem Umriss aus dem Paar erstehen lassen. Der Gedanke einer Simultanszene liegt eher fern als nahe, da die Formen nicht das notwendige Maß an Übereinstimmung aufweisen, und hierin zeigt sich vor allem, dass dem Künstler daran lag, oszillierende Bildzeichen zu erfinden, die zwar deutlich, aber nicht eindeutig sind und die Vorstellungskraft des Betrachters beflügeln. Kandinsky dürfte sich erinnert haben, dass gerade der Entwurf dieser Bildpartie ihm größtes Kopfzerbrechen bereitet hatte. Aus dem Abstand vieler Jahre wirkt die leichthin getuschte Zeichnung wie ein innerer Akt der Distanzierung von den Mühen des Entwurfsprozesses.

64) Kandinsky bereitete den Holzschnitt mit einer Gouache vor. Siehe Barnett 1992, Bd. 1, S. 237, Nr. 268a. Zum Holzschnitt vgl. Derouet/Boissel 1984, S. 70 f.; Roethel 1970, S. 186, Nr. 93.

65) Am 9. Mai 1912 schrieb der Verleger Reinhard Piper an Kandinsky: „Dadurch, daß die Vollbilder [das sind die vier farbigen Beigaben des Almanachs] alle einzel [sic] gedruckt an die verschiedensten Stellen des Buches einzel [sic] eingeklebt werden müssen, sind die Buchbinderarbeiten sehr kompliziert und leider auch teuerer geworden.“ Kandinsky/Marc 1983, S.168.

66) Erika Hanfstaengl vermerkte dazu: „Entwurf zu der mit Schablonen kolorierten Reproduktion im Almanach ‚Der Blaue Reiter‘ vor S.65“. Vgl. Hanfstaengl 1974, S. 136, Nr. 333; auch Dämmer 1991, S. 102. Barnett präzisierte, dass die handkolorierten Blätter für die Luxusedition des Almanachs bestimmt waren. Barnett 1992, Bd. 1, S. 236, Nr. 267. Vgl. auch Barnett 2006, Bd. 1, S. 35, Nr. 5 sowie die farbige Abbildung S. 130. Siehe auch den Brief Kandinskys an den Verleger Piper vom 2. Februar 1912, mit dem er die Ausstattung der verschiedenen Editionen präzise beschrieb. Kandinsky 2008, S. 119.

67) Vgl. Barnett 2006, Bd. 1, S. 95, Nr. 186.

68) Auch Barnett hat gesehen, dass Kandinsky die Tuschzeichnung für sein Bauhausbuch eigens anfertigte. Vgl. Barnett 2006, Bd. 1, S. 96, Nr. 187 sowie S. 139.